Besetzte Stadt: Was noch heute an die Rote Armee in Berlin erinnert
Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, vor 20 Jahren zog die Rote Armee aus Deutschland ab. Die Besatzungstruppen ließen 350 militärische Anlagen in Berlin und Umgebung zurück. Viele von ihnen verrotten – und mit ihnen politische und profane Wandgemälde. Eine Reise in die abblätternde Bilderwelt der Kasernen – auf den Spuren der Sowjetunion.
Im Raum erstreckt sich das Bild über die gesamte Länge der Wand. Es ist kein Caravaggio oder Rubens. Dennoch hat man das Gefühl, wie durch eine Galerie, ein Museum zu gehen. Gemalt haben hier unbekannte Künstler. Für eine Art Ewigkeit, für die nationale Ehre, zumindest für einen bunteren Alltag. Ein Wandbild in einer ehemaligen russischen Kaserne zeigt meist ein riesiges Panorama voll mit vielen Details. Die meisten Räume und Festsäle sind sehr dunkel. Erst mit dem Licht der Taschenlampe leuchten die Farben kräftig, werden die Bilder zum Leben erweckt. Und damit die Spuren, welche die russische Armee in Deutschland hinterlassen hat. Bei ihrem Abzug vor 20 Jahren.
Was vom Abzug übrig blieb
Am 31. August 1994 geht eine Ära zu Ende. Die sowjetischen Streitkräfte verlassen deutschen Boden nach fast 50 Jahren Besatzungszeit. Deutschland ist wiedervereinigt, Osteuropa im Umbruch, die Welt ordnet sich neu. Eine geballte Streitmacht mit einer halben Million Soldaten und Angehörigen sowie Millionen Tonnen Material wird per Bahn, Schiff und Flugzeug ausquartiert. Zurück bleiben Erinnerungen und viele Kasernen. Etwa 1500 militärische Anlagen gibt es in den ostdeutschen Bundesländern, 350 alleine in Berlin und Brandenburg.
Für den Rücktransport und die daraus entstehenden Verpflichtungen zahlt Deutschland an Russland einen hohen Milliardenbetrag. Für die Liegenschaften und Truppenübungsplätze auf deutschem Boden schätzt die damalige Bundesregierung den Sanierungsbedarf auf einen zweistelligen Milliardenbetrag. Was nun tun, mit all den kleinen und großen Anlagen, Kasernen, Bunkern, Flugplätzen? Die Eigentumsrechte gehen an Deutschland, zum Teil delegiert an die jeweiligen Bundesländer. Allerdings müssen die Anlagen aufwendig saniert werden. Noch immer rotten viele Objekte vor sich hin. Oft ein trostloser Anblick. Lukrative Liegenschaften wie ehemalige Flugplätze mit ihren großen Flächen wurden inzwischen an Solaranlagen-Firmen verpachtet, vermietet oder verkauft.
Zunächst die Neugier, dann die Zerstörung. Die alten russischen Kasernen üben einen starken Reiz aus, dem nachzugehen ist. Zumal ganze Städte und Areale bis zum Rückzug hermetisch abgeriegelt waren. Wie war der Soldatenalltag hinter diesen Mauern? Erkundungswillige Abenteurer streifen durch die Ruinen. Lost-Places-Anbeter und Fotografen suchen Motive, mancherorts gibt es Führungen.
Soldaten zwischen Drill und Sehnsucht
In der Regel hatte der einfache Mannschaftssoldat keine Gelegenheit, sein Gelände und seinen Alltag zu verlassen – außer zu Truppenübungen oder verordneten Ausflügen. Der Alltag war straff durchgetaktet, meist mit Drill. Natürlich auch mit Kameradschaft und Korpsgeist. Jederzeit mussten die Besatzungstruppen einsatzbereit sein, für den Schlag gegen den Klassenfeind im Kalten Krieg.
Zahlreiche Bekenntnisse in Wort und Bild gibt es über die Besatzungszeit. Viele Soldaten beschreiben eine Art Hölle mit wenig Verpflegung und viel Schikane. Andere berichten auch Positives: In der Ferne rückte man zusammen, vereint in der Sehnsucht nach der Heimat. Offiziere hatten es besser; sie durften ihre Familien mit nach Deutschland nehmen. In den russischen Kleinstädten inmitten der DDR gab es Kindergärten und Schulen, Spielplätze und Schwimmbäder, eigene Supermärkte und Krankenhäuser. Die Malereien in den Kasernen zeugen davon. So grau das einfache Soldatenleben für die Mehrzahl der Russen in ihren eingezäunten Kasernen auch war, so bunt waren ihre Häuser und Gebäude.
Besonders apart wirken Amtsstuben. Alle Farben findet man hier, helles Gelb, knalliges Orange, tiefes Rot, kräftiges Blau. Bunte Tapeten mit Mustern und Blümchen, Wasserrosen und verwirrende symmetrische Figuren hübschen die Wände ebenso auf. Nicht immer handelt es sich um Propagandabilder. Offenbar hatte der Standortkommandant eine gewisse Entscheidungsmacht darüber, was auf seinem Gelände gemalt wurde
Propaganda und richtige Märchen
Die Mehrzahl der Bilder entstand durch professionelle Maler-Brigaden, die von Politoffizieren angeleitet wurden. Man findet aber auch Bilder und Motive, die sichtbar von einfachen Soldaten oder Armeeangehörigen gemalt wurden. Die typischen Propagandabilder ähneln sich in Typ und Motiv. Immer wieder ist eine starke Glorifizierung der Armee zu sehen. Soldaten aller Waffengattungen werden gezeigt, Panzer, Kampfjets und Raketen. Auch der Große Vaterländische Krieg wird thematisiert.
Interessant ist, dass ältere Bilder einfach mit Tapeten abgedeckt wurden, wenn sie nicht mehr gewünscht waren. Andere Bilder sind übermalt oder ergänzt worden. Lenin fehlte selten. Eingebunden in große Wandbilder wird er als Schöpfer einer großen Supermacht und ihrer Industrialisierung dargestellt. Auch Errungenschaften wie Wasserkraftwerke und Staudämme finden sich immer wieder. Nicht zu vergessen die Eroberung des Weltalls. In den Sporthallen werden athletische Kämpfer gezeigt, die an die alten Griechen erinnern mit Wappen und Abzeichen in den Nationalfarben.
Viele Wandbilder zeigen auch Landschaftsmotive. In allen erdenklichen Farb- und Bildgestaltungen. Landschaft mit Berg, Fluss und Tal. Landschaft mit Schloss und Burg. Landschaft mit Meer, Sonne und Himmel. Landschaft mit Tieren. In Küchen und Speisesälen findet man recht liebliche Motive von Speisen, Obst und Gemüse hängt als Wandverzierung herab. Folkloretänzer der russischen Völkergruppen tanzen ebenso herum.
Eine besondere Gruppe der Wandbilder bilden Kindermotive. Fabel- und Märchenfiguren lächeln einen an. Bekannte Bilder aus Kinderbüchern werden kopiert. Ein Arzt verbindet einem kranken Bären die Hand, die Sonne strahlt über einem fliegenden Kind auf einer Wolke. Manche Bilder sind kindlich-naiv gemalt, andere wiederum sehr fein und filigran.
Es gibt definitiv keinen einheitlichen Kunststil, den man den vielen Bildern zuordnen könnte. Zu unterschiedlich sind sie, von zu vielen Malern sind sie gemalt worden. Nur sehr wenige Bilder sind persönlich signiert. Oft wurden Motive von bekannten russischen Künstlern einfach abgemalt. Aber eines kann man wohl behaupten: Die Bilder haben den Alltag in der umzäunten Welt bunter gemacht.
Vielleicht ist dieser Widerspruch noch heute gerade das Reizvolle: total verkommene Orte und wunderschöne Malereien. Manche ehemaligen Armeeangehörigen besuchen, wenn sie in Deutschland sind, ihre alten Kasernen. Wie muss ihnen zumute sein, wenn sie sehen, was jetzt daraus geworden ist?
Stefan Neubauer
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