Das Babylon der Zwanziger Jahre: Als Berlin aus allen Nähten platzte
Not herrscht in Groß-Berlin, 100.000 Wohnungen fehlen, und die Armut zieht weite Kreise. Ein fiktiver Bericht vom Mittwoch, dem 21. August 1929.
Anlässlich des Serienstarts von "Babylon Berlin" am 13. Oktober haben wir ein Gedankenexperiment gewagt und Artikel aus der damaligen Sicht verfasst. Dabei fiel uns auf: Viele Themen - Wohnungsnot, Ärger um den Flughafen, wilde Partynächte - stehen damals wie heute für Berlin.
Martin Wagner prägt das Gesicht unserer Reichshauptstadt Berlin seit Jahren, als Stadtbaurat, als Vordenker, als „Sozialdemokrat“! Das Heil für Berlins Städtebau sucht er im fernen Amerika, wahrlich kühn das Unterfangen. Gewiss, Preußens Baukultur ist überladen von prallen Putten in wucherndem Efeu. Aber das Ornament als Verbrechen zu werten, wie es dem neuen Chic beliebt und wie es ihm der Architekt Adolf Loos soufflierte, das überlassen wir getrost den Parvenus im Romanischen Café, zu denen neuerdings auch Faustkämpfer gehören, unter ihnen ein gewisser Max Schmeling.
Halten wir es also lieber mit Berlinern, welche wie der Philosoph Walter Benjamin in Hinterhöfen aufgewachsen sind. Man mag nicht an die 200.000 Berliner denken, die laut Magistrat in Kellerwohnungen leben. Wir müssen die junge Demokratie dafür loben, dass sie das Reichsheimstättengesetz erließ und solche Wohnungen keine Genehmigung mehr erlangen. Gebaut wird nun aber in Nestern wie Friedenau.
Glücksritter, Sternchen und 4,1 Millionen hungrige Mäuler
Es war ein Taschenspielertrick, mit dem die Stadtvorderen Berlins Grenzen 1920 verschoben haben, um 59 Landgemeinden und sogar 27 Gutsbezirke schlucken zu können. Sie hätten es bei der Eingemeindung der acht Städte rund um Berlin belassen sollen, um ihren Willen zur „Weltstadt“ wenigstens zu kaschieren. Gewiss, von überallher zieht es Glücksritter und Sternchen in die Stadt und es fehlen 100.000 Wohnungen. Aber was ändert sich, wenn das Elend nun weitere Kreise zieht und das Volk 4,1 Millionen hungrige Mäuler zählt statt 2,1 Millionen wie zuvor?
Zumal die Größe unseren Baumeistern zu Kopfe steigt: Alles wächst in die Höhe, über die Kirchtürme hinweg, als könne das Weltliche erhaben sein. Alles aus Glas! Gott bewahre uns vor dem Bau des leuchtenden Kristalls am Bahnhof Friedrichstraße, den Mies van der Rohe für die „Turmhaus AG“ zeichnete. Sozialdemokraten wie Wagner erliegen diesem Zeitgeist. Dessen städtebaulicher Wettbewerb zur Neugestaltung des Alexanderplatzes ist ein grober Fehler: Die Stadt ist dort zu Ende gebaut.
Lauter Droschken und Automobile auf den Straßen
Im Schöneberger Szenelokal Eldorado bei einem Absinth denkt mancher anders darüber. Und vor lauter Droschken und Automobilisten kommt der Bürger kaum über die Straße. Trotzdem mag man es nicht glauben, dass dereinst anderswo noch ein Verkehrsturm aufgestellt wird wie am Potsdamer Platz. Wer zügelt die Pferde, nur weil lustige runde Lichter plötzlich rot aufglühen statt grün? Nein, wir brauchen mehr Schutzpolizisten, damit Ordnung auf die Straße zurückkehrt.
Denn Berlin ist die Hure Babylon, die da am Wasser sitzt, voll Lästerung, die Mutter aller Gräuel auf Erden. Das bleibt in Erinnerung vom Manuskript eines gewissen Alfred Döblin. Ein Zeugnis vom Verfall der Sitten. Wer stellt dem endlich ein Bild sittlicher Größe entgegen? Trefflich hielt er indes das Dröhnen der Presslufthammer am Alexanderplatz in Worten fest, wie eine Fotografie.
Mag die Vernunft in mancher Planung fehlen, den Industriebaronen kann Berlin nicht genug danken. Licht und Strom mögen den Sternen über der Stadt die Strahlkraft rauben, Werner von Siemens gibt den Proleten eine Zukunft, von dem das Gesinde auf ostpreußischen Gütern nicht zu träumen wagte. Die neuen Häuser der Siemensstadt haben keine drei Geschosse, sind schmal wie Handtücher mit lustigen Satteldächern und einem Gemüsegarten hintenan: für jeden Fabrikarbeiter eins!
„Neues Bauen“ nennen sie das und sie reden viel von Licht und Luft. Benjamin schimpfte Bürger neulich gar „Etuimenschen“, als ob die Signatur der Neuzeit der nackte Körper und Turnvater Jahns putzige Prinzipien seien. Chichi ist das und vermutlich stürzt uns auch das in die Krise, die die Welt nun beklagt, wobei man wohl eins noch mehr fürchten muss als das Laissez-faire unseres endenden Jahrzehnts: die selbst ernannten Retter.
Zum Weiterlesen: Berlins Nachtleben und die Gründung der BVG. Weitere Artikel zum Thema "Zwanziger Jahre in Berlin" finden Sie hier.