„Rundfunkarbeiten“ von Walter Benjamin: Funkstunde
Große Unglücksfälle und kleine Abschweifungen des Geistes: Die neue „Kritische Gesamtausgabe“ präsentiert einen Band mit Walter Benjamins Arbeiten fürs Radio.
Große Unglücksfälle faszinieren. Walter Benjamin widmete eine ganze Reihe seiner Radiovorträge den Katastrophen und erzählte sie seinen jugendlichen Hörern: den Untergang von Pompeji, das Erdbeben von Lissabon, das Eisenbahnunglück am Tay. Man ahnt bereits, dass in jedem dieser Vorträge ein Gutteil Bildungsvermittlung steckt, bei der Brücke am Tay natürlich das Gedicht von Fontane.
Der Philosoph führte notgedrungen die Intellektuellenexistenz eines „freien Mitarbeiters“. So auch beim Rundfunk, der damals, in den Endjahren der Weimarer Republik, noch in den Kinderschuhen steckte. An die 90 Sendungen lassen sich identifizieren, die Benjamin geschrieben und teils auch gesprochen hat. Unter Benjaminianern bekannt sind darunter allenfalls die „Hörmodelle“ – das klingt so schön, man denkt gleich an Brecht –, die in Wirklichkeit Hörspiele waren. Erprobungen wie alles, was in dem jungen Medium geschah.
Benjamin kümmerte sich nicht um die Archivierung
Nicht einmal in den bisherigen Werkausgaben war Benjamins Rundfunkarbeiten ein eigener Ort zugewiesen. Mit der neuen „Kritischen Gesamtausgabe“ ist das anders. Der umfängliche, der Kommentierung wegen auf zwei Halbbände verteilte Band 9 versammelt Manuskripte, Dokumente und Varianten; indes erneut nicht alles, was Benjamin ins Mikrofon gesprochen hat, wie den berühmten Vortrag „Ich packe meine Bibliothek aus“ von 1931, deren Text sich an anderer Stelle der Werkausgabe findet. Benjamin selbst sah seine Radioarbeiten, unter denen erstaunlicherweise die „Vorträge für Kinder“ mit ihren Unterreihen über Berlin, über Sagen und Abenteuer sowie über die Katastrophen die Hälfte der Stücke ausmachen, als bloßen Broterwerb, er kümmerte sich nicht um ihre Archivierung. Andererseits ist man erstaunt, mehr vielleicht als bei den großen Texten, wie unendlich viel im Walter-Benjamin-Archiv aufbewahrt wird.
Noch mehr erstaunt, mit welcher Sorgfalt Benjamin zu Werke gegangen ist, zumal bei Themen, die seinen intellektuellen Interessen eher fern lagen. So hat er für den 20-minütigen Vortrag „Briefmarkenschwindel“ vom 1. Juli 1930 sogar die Zeitschrift „Der Philatelist“ herangezogen, das „Organ für Postwertzeichenkunde“. Wer philologische Detektivarbeit schätzt, hat an dieser kommentierten Ausgabe seine helle Freude, sind doch hier die wahren Abschweifungen des Geistes, die von der Notwendigkeit ernsthafter Arbeit nur mühsam gedeckten Abenteuer des Stöberns und Schmökerns nachzuvollziehen, die der Leser sich selbst vielleicht kaum je gönnen mag.
Mit der Machtübernahme der Nazis endete Benjamins Rundfunktätigkeit; er konnte sie im Exil nirgends mehr fortsetzen. Seine letzte Sendung hatte er am 29. Januar 1933 in Frankfurt mit Miniaturen aus der „Berliner Kindheit um 1900“ – die seinen postumen Ruhm mitbegründete, lange nach dem erzwungenen Tod im Jahr 1940.
Walter Benjamin: Rundfunkarbeiten. Hg. von Thomas Küpper und Anja Nowak. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 9. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 1544 S., 98 €.
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