Fahrrad-Volksentscheid in Berlin: Aktivisten sammeln fünfmal so viele Unterschriften wie nötig
Der Zuspruch für den Fahrrad-Volksentscheid ist groß. Nun nehmen die Aktivisten die Kostenschätzung des Senats auseinander. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller schließt einen Kompromiss nicht aus.
Das zeigt und belegt, dass der Bedarf an echten Fortschritten in der Verkehrspolitik gewaltig ist und die Ungeduld der betroffenen Verkehrsteilnehmer keine weitere Verschleppung mehr zulässt. Schluss mit der rückwärts gewandten Autofixierung und der Benachteiligung vernünftiger Mobilität!
schreibt NutzerIn nanen
Die Initiatoren des Fahrrad-Volksentscheids für mehr Radwege und eine bessere Infrastruktur für Radfahrer in Berlin haben die erste Hürde genommen. Am Dienstagvormittag teilten sie mit, dass sie innerhalb von dreieinhalb Wochen 105.425 Unterschriften für ihr Anliegen gesammelt hätten. Nötig waren in diesem ersten Stadium 20.000 binnen sechs Monaten. Initiator Heinrich Strößenreuther sprach von "Berlins schnellstem Volksentscheid". Allein bei der Fahrradsternfahrt am 5. Juni seien 15.000 Unterschriften gesammelt worden. Weitere 20.000 seien allein am vergangenen Freitag eingegangen.
Am 18. Juli sei ein Gespräch mit Verkehrssenator Geisel und seinem Staatssekretär Christian Gaebler (beide SPD) geplant, die dem Anliegen der Initiative bislang kritisch gegenüberstehen - unter anderem, weil sie von völlig anderen Kosten ausgehen, die im Fall eines Erfolges auf das Land Berlin zukommen.
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) schließt einen Kompromiss mit der Rad-Initiative nicht aus und verwies auf das angekündigte Gespräch. Das Anliegen, "mehr für Fahrradfahrer zu tun ist gut, für die Umwelt, für die Lebensqualität", sagte Müller am Dienstag. "Das Ziel ist ein Verkehrsmix. Denn das Auto hat seine Berechtigung", wies er auf den Wirtschaftsverkehr hin. Müller würde sich ungeachtet dessen aber freuen, "wenn es schneller zum Radverkehrsausbau kommt". Er teile in dem Radgesetz der Initiative "inhaltlich vieles, was formuliert ist". Er könne aber nicht alles versprechen, da auch auf den Haushalt zu achten sei.
Auch wegen der unterschiedlichen Kostenschätzungen hatte Strößenreuther seine Präsentation mit "Mathe- und Zählergebnisse" überschrieben. Zunächst erklärte er die eigene Prognose. In der stecken 392 Millionen Euro Ausgaben, wobei die größten Einzelposten die Schaffung von Radwegen an allen Hauptstraßen (136 Millionen) sowie der Bau von 100 Kilometer Radschnellwegen (85 Millionen) und Abstellanlagen (60 Millionen) seien.
Diesen Kosten stünden 135 Millionen Euro Einsparungen gegenüber: durch Mengeneffekte bei Ausschreibungen, wenn "geklotzt statt gekleckert" werde, durch zusätzlich akquirierte Fördermittel dank mehr Personal in den Verwaltungen, durch schnellere BVG-Busse, die nicht mehr hinter Radfahrern herschleichen und sich um Falschparker schlängeln müssen, sowie durch höhere Bußgeldeinnahmen, weil Falschparken konsequenter geahndet werde. Die Differenz beider Kostenblöcke plus einem 25-prozentigen Puffer für mögliche Kostensteigerungen ergebe die von der Initiative genannten 320 Millionen Euro binnen acht Jahren.
Initiative zerlegt Kalkulation des Senats
Parallel haben die Initiatoren die Kostenschätzung des Senats von 2,17 Milliarden Euro analysiert - und am Dienstag publikumswirksam zerlegt: Zunächst habe der Senat die Größe des Hauptstraßennetzes verdoppelt - eine Frage der angelegten Kriterien. An zwei Dritteln der Hauptstraßen gebe es bereits Radverkehrsanlagen, von denen wiederum die Hälfte dem im Volksentscheid geforderten Standard entspreche. Die Kernforderung ist eine Breite von zwei Metern. Obwohl sich Senat und Initiative in diesem Punkt einig seien, habe die Verwaltung einen Zuschlag von 30 Prozent angesetzt. Mit 75 Prozent falle der "Buddelzuschlag" für angeblich notwendige großflächige Bauarbeiten für den fahrradfreundlichen Umbau der Straßen aus, deren Notwendigkeit die Initiative bezweifelt. Bereinige man diese Punkte, kämen die Kalkulationen der Initiative und des Senats auf nahezu identische Beträge.
Die Berliner Grünen feierten das Ergebnis als "Denkzettel für Rot-Schwarz" sowie als "Rückenwind für Grüne Mobilität". Die Bewohner Berlins wollten einen sicheren Radverkehr ohne marode Wege und lebensgefährliche Kreuzungen, erklärte Daniel Wesener, Landesvorsitzender der Berliner Grünen. "Wir gratulieren der Initiative für einen Volksentscheid Fahrrad zu ihrem Etappenerfolg."
Die große Zahl der mühelos gesammelten Unterschriften sei Rückenwind für eine moderne, grüne Verkehrspolitik. "Die Große Koalition hat nicht nur den Radverkehr sträflich vernachlässigt." Es sei keine Überraschung, dass sich die Kostenschätzung der Initiative wesentlich von der des Senats unterscheidet. "Rot-Schwarz hat Mondzahlen fabriziert, die einer realistischen Überprüfung nicht standhalten, sondern politisch motiviert sind", sagte Wesener. "Mit solcher Trickserei tut die Große Koalition weder sich selbst noch Berlins politischer Kultur einen Gefallen."
"Das beste Anti-Stau-Programm"
Für die Fahrrad-Aktivisten um Heinrich Strößenreuther steht fest, dass am Ziel eines Radverkehrsgesetzes in Verhandlungen mit dem Senat nicht gerüttelt werden dürfe: Nur ein Gesetz sichere die notwendige Verbindlichkeit, damit die geforderten Punkte unabhängig von politischen Mehrheiten in klar vorgegebenen Fristen umgesetzt würden. Als Verbündeten bemühte Strößenreuther den CDU-Generalsekretär Kai Wegner, der den Senat aufgefordert hatte, der Initiative ein Angebot zu machen. Dieses Angebot, so Strößenreuther, "sollte zwischen der Drei-Sterne-Variante in unserem Gesetzentwurf und der vom Senat berechneten Fünf-Sterne-Deluxe-Variante liegen."
Ob er denn auch etwas Positives für Autofahrer zu sagen habe, wird Strößenreuther am Ende der Pressekonferenz gefragt. "Der Volksentscheid Fahrrad ist Deutschlands bestes Anti-Stau-Programm", lautet seine Antwort: Wenn künftig alle Rad fahren würden, die sich bisher nicht trauten, seien die Straßen frei für jene, die gar nicht aufs Auto verzichten könnten