Die Macht der Räuber: Wölfe, Luchse und Co. gestalten ihre Lebensräume
Wölfe verändern Entstehung und Wiederbesiedlung von Feuchtgebieten, indem sie die Ökosystem-Ingenieure töten
Kaum hatte der junge Biber in den nördlichen Wäldern des Voyageurs-Nationalparks im US-Bundesstaat Minnesota unmittelbar südlich der kanadischen Grenze im Jahr 2015 seinen ersten Damm gebaut, wurde er von einem Wolf erbeutet.
Schon kurz danach veränderte sich das Landschaftsbild dort erheblich: Während Biber zu ihren Lebzeiten ihren Staudamm laufend ausbessern und reparieren, tauchten im verwaisten Bauwerk bald die ersten Lecks auf, und schon nach wenigen Tagen verschwand der gerade erst aufgestaute See. An seiner Stelle wuchsen Nadelhölzer, die nasse Wurzeln nur schlecht vertragen.
Weil auch fünf Jahre später im Herbst 2020 kein anderer Jung-Biber das Revier besetzt und einen neuen Damm errichtet hatte, beeinflusst eine einzige Wolfsjagd dort noch heute die Natur nachhaltig und lässt an einer Stelle Wald wachsen, an der sonst ein See wäre.
Ähnliches passiert in den Wäldern rund um den Voyageurs-Nationalpark und wohl auch in anderen Regionen, berichten Tom Gable und Austin Homkes von der University of Minnesota in St. Paul gemeinsam mit drei Kollegen in der Zeitschrift „Science Advances“.
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Gefährdete Jungtiere
Damit bestätigen die US-Forscher eine Theorie, nach der große Raubtiere wie Wölfe, Luchse und Bären die Natur erheblich beeinflussen und Weichen für die Entwicklung von Ökosystemen stellen können. In den Wäldern rund um den Voyageurs-Nationalpark sind offensichtlich junge Biber, die gerade ein neues Revier suchen, die Stellschraube, mit der die Wölfe das Entstehen von Seen verhindern und so die Nadelwälder des Nordens fördern.
Die Raubtiere nutzen eine Schwachstelle im Lebenslauf der Nagetiere: Eine Biber-Familie lebt in einem selbst errichteten Bau, dessen Eingang unter Wasser liegt und so von Wölfen und anderen Raubtieren kaum erreicht werden kann. „Wird der Nachwuchs langsam erwachsen, werden die jungen Biber von den Eltern rausgebissen“, beschreibt der Wildtierökologe Volker Zahner von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf im bayerischen Freising eine erste Zäsur im Leben der Tiere.
Auf der Suche nach einem eigenen Revier, in dem sie eine Familie gründen können, wandern die Tiere dann oft etliche Kilometer. Finden sie ein geeignetes Gebiet, errichten sie dort einen ersten, kleinen Damm. Dadurch stauen sie einen Bach zu einem flachen See auf, in dem sie ihre eigene Biberburg errichten können.
„In dieser Zeit nach Verlassen der Burg der Eltern werden in Mitteleuropa viele Biber im Straßenverkehr überfahren, in Nordamerika erwischen häufig Wölfe die Auswanderer“, schildert Zahner die hohen Risiken dieser Lebensphase der Nagetiere.
Biber-Bilanzen
Jeder Wolf erbeutet jährlich im Durchschnitt vier oder fünf junge Biber, berichten Gable und seine Kollegen, die das Leben von 32 Wölfen in dieser Region seit 2015 mit Hilfe von Halsband-Sendern verfolgten.
Trotz dieser Verluste bleibt der Bestand der Biber der Region relativ hoch. Die Nagetiere stauen also mit ihren Dämmen das Wasser und verwandeln Waldstücke in Seen. Allerdings gilt das nur mit Blick auf die gesamte Region. Schauten sich die Forscher dagegen die einzelnen Gebiete genauer an, fanden sie dort durchaus gravierende Veränderungen. Auf einer mit rund 1800 Quadratkilometern ungefähr doppelt so großen Region wie die Stadt-Fläche von Berlin entdeckten die Forscher 58 Jung-Biber, die gerade ihr Elternhaus verlassen hatten und dabei Wölfen zum Opfer gefallen waren.
Elf dieser Tiere hatten bereits begonnen, einen Staudamm zu bauen oder den defekten Damm eines seit längerem verlassenen Reviers zu reparieren. In keinem dieser verwaisten Gebiete tauchte bis zum Winter ein anderer Biber auf, das aufgestaute Wasser floss durch die nicht instand gehaltenen, defekten Dämme ab.
31 der von den Forschern beobachteten Jung-Biber bauten ihre Dämme und in den meisten dieser Reviere lebten auch in den folgenden Jahren Biber. Anstelle von Wald hielt sich dort ein See. Von den elf verwaisten Dämmen wurden bis zum Herbst 2019 dagegen nur zwei repariert und erneut von Bibern besiedelt, in den restlichen neun stellte sich dagegen kein neuer Eigentümer ein und die Wälder können dort ungestört wachsen.
Nach den Schätzungen der Forscher zerstören in den Wäldern rund um den Voyageurs-Nationalpark Wölfe jedes Jahr im Durchschnitt 88 Neu- oder Wieder-Gründungen von Biber-Revieren schon nach kurzer Zeit. Dadurch verhindern die Raubtiere jährlich das Aufstauen von 194.000 Kubikmeter Wasser. Zwar nicht in der gesamten Region, aber in kleineren Gebieten von der Größe des Reviers einer Biber-Familie stellen die Wölfe so die Weichen für die Entwicklung von Ökosystemen in eine neue Richtung.
Umbruch in Yosemite
Gable und seine Kollegen beschreiben so eine punktuelle Beeinflussung der Natur durch große Raubtiere und ergänzen damit die schon seit einigen Jahren bekannten Mechanismen, mit denen Wölfe, Luchse und Co. Ökosysteme auf viel größeren Flächen beeinflussen.
Dabei entdecken Wildbiologen solche Zusammenhänge oft erst dann, wenn die großen Raubtiere aus einer Region verschwinden. Oder wenn sie zurückkehren. Wölfe wurden in verschiedenen Regionen Nordamerikas und in weiten Teilen Europas sehr stark dezimiert oder sogar ausgerottet. Waren die Räuber weg, ästen in diesen Gebieten im Durchschnitt fast sechs Mal mehr Hirsche als vorher. Als die Rudel dann zum Beispiel 1995 wieder in den Yellowstone Nationalpark zurückkehrten, dezimierten sie die Bestände dort wieder enorm. Das veränderte die Vegetation stark, weil die großen Pflanzenfresser nicht mehr so viele Blätter, Nadeln und Knospen von Bäumen fraßen.
Einen ähnlichen Einfluss beobachtet Marco Heurich von der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald und der Universität Freiburg auch nach der Rückkehr von Luchsen nach Mitteleuropa: Luchse erbeuten im Bayerischen Wald mehr Rehe als von Jägern geschossen oder im Straßenverkehr überfahren werden. Sinkt die Zahl der Rehe, verringert sich gleichzeitig auch der Druck dieser Tiere auf die Vegetation.
Landschaft der Angst
Die Pflanzenfresser reagieren auf das Räuber-Risiko und es entsteht eine „Landschaft der Angst“, wie Wildbiologen solche Veränderungen nennen. „Als die Wölfe in den Süden Skandinaviens zurückkehrten, blieben die Elchkälber viel näher bei ihren Müttern als vorher“, schildert Zahner eine dieser Anpassungen. „Die großen Pflanzenfresser weiden dann oft auch nicht mehr überall auf einer Lichtung, sondern bleiben lieber in der Nähe des Waldrandes, in den sie schnell fliehen können“, erklärt Zahner weiter. Daher haben in der Mitte einer Wiese junge Sträucher und Bäumchen also wieder eine Chance, deren oberste Triebknospe vorher nicht aus der Reichweite von Hirschmäulern herauswachsen konnte. Davon profitieren wiederum Füchse und Dachse, die sich am liebsten möglichst nah an Büschen und anderen Deckungsmöglichkeiten halten und so auch die Mitte einer Lichtung nutzen können.
Auch viele Vogel-Arten profitieren von den großen Raubtieren. „Im Süden Skandinaviens hört man die Beute eines Wolfsrudels oft lange, bevor man sie sieht“, berichtet Zahner. „So ein Wolfsriss spielt dort für Kohl- und Blaumeisen, Tannen- und Haubenmeisen eine ähnliche Rolle wie in Mitteleuropa die winterlichen Futterhäuschen“, erklärt der Wildtierökologe. Wenn in der Natur die Nahrung knapp wird, weichen die Singvögel gern auf andere Ressourcen aus. „Das Fett unter der Haut einer Wolfsbeute spielt dann die gleiche Rolle wie hierzulande ein Meisen-Knödel“ sagt Zahner: Beides liefert viel Energie, mit der die Vögel kalte Winternächte und die kräftezehrende Brutsaison im Frühjahr besser überstehen.
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