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Ein Radiologe untersucht eine weibliche Brust auf einem Computermonitor.
© Friso Gentsch/dpa

Von der Leyens neue Strategie: Wo steht Europa im Kampf gegen den Krebs?

Die EU-Kommission will sich im Umgang mit der Krankheit neu aufstellen. Ziel sei, Leiden zu mindern, Europa solle Führung übernehmen. Ein Faktencheck.

Vom „Neustart Europa“ hat die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch gesprochen und dazu auch den Kampf gegen den Krebs gezählt. Europa soll im Kampf gegen den Krebs „die Führung übernehmen“, sagte sie.

Die Kommission will dazu „Anfang nächsten Jahres“ einen Plan vorstellen. Von der Leyen verwies darauf, dass sie selbst als Kind ihre kleine Schwester an die Krankheit verloren habe.

„Als ich als Mädchen in Brüssel lebte, starb meine kleine Schwester im Alter von elf Jahren an Krebs.“

Laut aktuellen Daten sterben in Europa jährlich zwei Millionen Menschen an der Krankheit. Fast die Hälfte der Diagnosen erfolgt nach dem 65. Lebensjahr. Der demographische Wandel wird also voraussichtlich zu einer weiteren starken Zunahme führen. Laut jüngeren Berechnungen dürfte die Zahl der jährlichen Diagnosen von derzeit 4,2 Millionen auf 5,2 Millionen im Jahr 2040 anwachsen.

Welche Strategien haben Fachleute für den europäischen Kampf gegen Krebs vorgeschlagen?

Krebsforscher und Onkologen der großen Kliniken fordern vor allem, dass die Forschung weiter intensiviert wird. Darüber hinaus gibt es auch Konzepte, wie bereits verfügbare Mittel und Kenntnisse besser eingesetzt werden können. Eine Expertengruppe um den Präsidenten der Organisation Europäischer Krebsinstitute, Thierry Philip, stellte kürzlich im Fachblatt „Tumori Journal“ ein Konzept vor, wie eine europäische „Cancer Mission“ aussehen sollte.

An erster Stelle nennen sie den Abbau von Ungleichheiten innerhalb der Union. So gebe es nach wie vor massive Unterschiede etwa in der Verfügbarkeit von Präventionsmaßnahmen - von Schutz vor schädlichen Chemikalien am Arbeitsplatz bis hin zu Impfungen gegen Gebärmutterhalskrebs. Ähnliche Unterschiede machen die Forscher bei Möglichkeiten der Frühdiagnose und Zugang zu neuen, innovativen Behandlungsmethoden aus. Auch bei der Versorgung von Patienten gebe es große Lücken zu schließen. So unterschieden sich, wenn man Nordeuropa und Südeuropa vergleiche, die Überlebensraten für grundsätzlich gut behandelbare Tumore - etwa viele Brust-, Prostata und Lymphkrebs-Formen - um 30 Prozent.

Ziel müsse es sein, hier innerhalb von zehn Jahren eine Angleichung zu erreichen. Bei nicht leicht zu behandelnden Krebsarten und solchen mit bislang schlechter Prognose - darunter etwa Tumoren der Lunge und der Bauchspeicheldrüse - müsse innerhalb dieses Zeitraums eine Verdoppelung der durchschnittlichen Überlebenszeit angestrebt werden. Hierfür sollte demnach unabhängige Forschung gestärkt, andererseits ein Focus auf die Verbesserung des Datenaustausches zwischen Forschern gelegt werden.

Als dritte wichtige Säule fordert die Expertengruppe einen verstärkten Focus auf Krebserkrankungen von Kindern. Bei manchen Krebsarten hätten sich hier die Überlebensraten zwar deutlich verbessert, bei vielen gebe es aber praktisch keinen Fortschritt. Zudem seien viele Kinder von einem der vielen selten vorkommenden Tumoren betroffen.

Hier sei häufig der Forschungsanreiz aufgrund des jeweils nur kleinen Marktes für Therapien begrenzt. Europaweite Zusammenarbeit, welche die jeweils pro Land wenigen Patienten für Studien und Therapien von Spezialisten zusammenführen könne, müsse hier gezielt verbessert werden.

Gab und gibt es bereits Kampagnen der Politik mit dem Ziel, den Krebs besiegen?

Die Amerikaner sind ein glückliches Volk, denn bei ihnen wird bald niemand mehr an Krebs sterben. Jedenfalls haben die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für das Weiße Haus, Amtsinhaber Donald Trump und Demokraten-Favorit Joe Biden, ihren Landsleuten fest und ausdrücklich versprochen, die Krankheit zu besiegen.

Dass das in absehbarer Zeit gelingt, selbst mit massiven Anstrengungen in der Forschung, ist allerdings unwahrscheinlich. Das liegt unter anderem daran, dass Krebs nicht eine, sondern eine riesige und sehr diverse Gruppe von Erkrankungen ist, und dass diese sich auch, etwa in Reaktion auf Therapien, durch Mutationen unterschiedlich verändern können.

Politische Initiativen mit dem Ziel, den Krebs als Geißel der Menschheit auszumerzen, hat es schon öfter gegeben. Die prominenteste kam aus dem Weißen Haus. 1971 rief Präsident Nixon den „War on Cancer“ aus. Tatsächlich machte die Krebsforschung danach große Fortschritte, und auch in anderen Industrienationen wurde sie intensiviert. Aber mit wenigen Ausnahmen stiegen die Überlebenschancen von Patienten bis zur Jahrtausendwende kaum.

Seither hat es aber bei einigen Krebsarten deutliche Verbesserungen gegeben, meist durch moderne molekulare - und teure - Verfahren. Ob es in näherer Zukunft größere Forstschritte in den Therapien geben wird, darüber herrscht unter Experten keine Einigkeit. Viele Krebsforscher glauben aber, dass weiter verbesserte molekulare und individualisierte Methoden bei vielen Tumorarten deutliche Verbesserungen und mehr Lebensqualität bringen werden.

Das größte Potenzial sehen Gesundheitsforscher aber in der Prävention. Als entscheidende Faktoren gelten hier u.a. Tabakverzicht, wenig Alkohol, Vermeidung von Übergewicht, Stressreduktion und ausreichend Bewegung.

Wie arbeitet Europa in der Forschung zusammen?

Europa soll nicht nur wirtschaftlich zusammenwachsen, sondern auch in der Forschung: Diesen Traum verfolgt die EU schon seit den 1970er Jahren. Initiativen dazu gab es etwa von Ralf Dahrendorf. Richtig verwirklicht ist das aber bis heute nicht - auch wenn die EU-Staaten seit dem Jahr 2009 dazu verpflichtet sind, den „Europäischen Forschungsraum“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Dazu gehören etwa ein optimaler Austausch von Wissen, länderübergreifende Forschungsprogramme und auch ein offener Arbeitsmarkt für Wissenschaftler. Gerade die Medizin zeigt, dass ein einheitliches, EU-weites Vorgehen in vielen Fällen durchaus Sinn macht. Ein simples Beispiel: Wenn es etwa um seltene Krankheiten beziehungsweise Krebs-Arten geht, sind für Studien in einzelnen Ländern die Fallzahlen oft sehr gering. Strengt jedes Land seine eigenen Studien an, kommen im schlimmsten Fall viele wenig aussagekräftige anstatt einer richtig Analyse heraus. „Zersplitterung" und "Überschneidung“ in den Anstrengungen der EU-Mitgliedsstaaten in Sachen Krebs-Forschung diagnostizierte die EU schon 2002, also vor fast zwanzig Jahren. Dass die EU-Staaten in der Forschungspolitik „weitgehend nationalistisch“ handeln, wurde seitdem in Brüssel immer wieder kritisiert. Noch vor zehn Jahren kursierte in Brüssel die Zahl von fast 2000 nationalen Programme um zu erkunden, wie man genetisch bedingte, seltene Krankheiten besser therapieren könne - was angesichts der wenigen Patienten in diesem Fällen ziemlich ineffektiv ist.

Dennoch: Seit langem gibt die EU auch Millionen dafür aus, um insbesondere in der Krebsforschung einheitlicherer Programme aufzulegen: eben um etwa mehr kritische Masse für vorklinische und auch klinische Tests zu erreichen. In den europäischen Forschungsrahmenprogrammen spielt Gesundheit und die Krebsforschung eine zentrale Rolle.

Auch im kommenden EU-Forschungsrahmenprogramm soll das wieder ein Schwerpunkt sein. „Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass in 20 Jahren niemand mehr in Europa an dieser schrecklichen Krankheit sterben muss“, kündigte der gesundheitspolitische Sprecher der Europäischen Volkspartei, Peter Liese (CDU), bereits im April an - was Leyen jetzt mit ihrer Rede verstärkte. Die Ernsthaftigkeit der Bemühungen wird sich auch daran messen lassen, ob die EU-Mitgliedsstaaten das von der EU-Kommission vorgeschlagene Forschungsbudget (für alle Forschungsbereiche fast 100 Milliarden Euro für die Jahre von 2021 bis 2027) bewilligen.

[Das aktuelle Magazin Tagesspiegel Onkologie informiert auf 124 Seiten über Prävention, Diagnostik, Therapie und Forschung bei Krebs. Das Magazin kosten 12,80 Euro (Tagesspiegel-Abonnenten 9,80 Euro) und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop unter Telefon 030 29021-520]

Wie kämpft Deutschland gegen die Krankheit?

Dass die Diagnose Krebs etwas von ihrem Schrecken verliert, davon ist die Medizin noch weit entfernt. Wohl aber sind die Behandlungschancen für viele Tumorarten in den zurückliegenden Jahren deutlich gestiegen, etwa durch Immuntherapien, bei denen der Körper dazu angeregt wird, selbst die Krebszellen zu attackieren. Hinter diesen Durchbrüchen stecken meist exorbitante Entwicklungskosten, die auch pharmazeutische Hersteller überfordern können, vor allem, wenn es um sehr seltene Krebserkrankungen geht, bei denen kein großer Umsatz zu erwarten ist.

Nicht zuletzt deswegen riefen die Bundesministerien für Forschung und Gesundheit Anfang dieses Jahres die „Nationale Dekade gegen Krebs“ ins Leben. Sie erhoffen Fortschritte bei der Prävention, Diagnose und Therapie von Krebs, es wurden dafür zunächst 62 Millionen Euro eingeplant. „Wir müssen noch besser in der Forschung werden“, begründete Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Schritt. Denn so viel steht fest: In einer gesünder und älter werdenden Gesellschaft wie Deutschland wird es künftig immer häufiger Krebs - eine klassische Alterserkrankung - geben. Der Handlungsdruck also steigt.

Eine weitere große Initiative im Kampf gegen den Krebs startete, ebenfalls dieses Jahr, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Bis Mitte 2020 will es das Nationale Krebspräventionszentrum aufbauen, unterstützt wird das DKFZ dabei mit 25 Millionen Euro von der Deutschen Krebshilfe. Die Krebshilfe selbst ist einer der größten Geldgeber in der Krebsforschung in Deutschland: 136 Millionen standen der Stiftung laut Geschäftsbericht 2018 zur Verfügung, mehr als die Hälfte gingen an die Wissenschaft. Gefördert wurde unter anderem auch das Netzwerk für genomische Medizin bei Lungenkrebs.

Hier geht es um die Genomsequenzierung von Lungentumoren als Grundlage für individualisierte Medizin. Solche auf Patienten zugeschnittene Therapien werden in der Krebsbehandlung in den kommenden Jahren stark an Bedeutung gewinnen.

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