Mit dem Hausboot durch Masuren: Wo sich der Himmel spiegeln kann
Ein Land ohne Eile, so hat ein Schriftsteller Masuren genannt. Wer hier im Hausboot unterwegs ist, kann das nur unterstreichen.
Zum Teufel mit dem Navi! Statt uns direkt von Warschau aus an die Masurischen Seen zu lotsen, beschert uns das alte Ding jede Menge Umwege. Kein Wunder, dass wir erst spät am Abend in Mikolajki ankommen. Gottlob ist die Charterbasis besetzt, doch der Supermarkt hat längst geschlossen. Und so heißt es am nächsten Morgen statt „Leinen los“ erst einmal ab zum Discounter und für eine Woche Lebensmittel einkaufen.
Eindeutig: Polen ist selbst hier an der östlich(st)en Peripherie der EU in der Gemeinschaft angekommen. In den Regalen liegen französischer Crémant, italienische Antipasti, schottischer Lachs und spanischer Schinken ... alles zwar zu höchst portemonnaiefreundlichen Preisen, doch nicht wirklich nötig für eine Bootstour durch Masuren.
In der Marina von Mikolajki (Nikolaiken) geht es zu wie im Taubenschlag. Ein paar Meter weiter schieben sich Heerscharen von Tagesausflüglern durch die Sträßchen, aus den Restaurants der Seepromenade weht Essensduft. Wir passieren die Stadtbrücke und nehmen Kurs auf den schmalen, von Wiesen und Wäldern umrahmten Jezioro Talty, den Talter See. Der Wind zaubert die ersten Krönchen auf die Wellen, Segler pfeilen mit geblähten Spinnakern über das Wasser.
Der erste Eindruck überrascht
Nach zwei Stunden Fahrt wird die Landschaft hügeliger, an den Ufern steht Schilf. Ryn (Rhein), unser Tagesziel am Ende des Sees, empfängt uns mit der Premiumausgabe der Liegeplatzkategorie „Schöner Ankern“. Doch leider dreht sich das Himmelsgebläse während des Anlegemanövers, der Wind kommt jetzt von Land, die Ansteuerung wird zum Glücksspiel. Der Hafenmeister sieht unser Dilemma, spurtet los und hilft.
„Ryn“, erzählt er später in seinem Büro, „war früher eine der größten Burgen des Deutschritterordens. Heute ist der trutzige Bau ein Vier-Sterne-Hotel mit prima Küche.“ Wir erledigen die Anmeldeformalitäten und machen wir uns auf den Weg in den 3000-Seelen-Ort.
Der erste Eindruck überrascht. Warschau und nicht zuletzt Brüssel haben wohl auch hier tief in die Subventionstöpfe gegriffen und dem realsozialistischen Einheitsgrau mehr als nur einen properen Anstrich verpasst. Vieles wurde liebevoll restauriert.
Am nächsten Tag wollen wir den Talcky Kanal entlangschippern. Aber wo ist er? Wir suchen die Einfahrt mithilfe des Fernglases. Schilf und ein paar Zelte sind zu sehen, kein Kanal. Camper beobachten uns, ahnen, was wir suchen und deuten in Richtung Nordwest. Ah ja, da ist ja das Liliputkanälchen. Ein „Tuuut“ aus dem Schiffshorn zum Dank, und ab geht es durch das Nadelöhr. Es ist der Beginn eines insgesamt elf Kilometer langen, weltverlorenen Wasserstraßengeflechts, das die nördlichen mit den südlichen Masurischen Seen verbindet.
Gizycko hat sich hübsch gemacht
Das „Land ohne Eile“, wie der Schriftsteller Arno Surminski seine Heimat nannte, bittet einen Steinwurf vor der Mündung des Jezioro Boczne in den Niegocin See zu Tisch. „Ihr müsst unbedingt im ,Schwarzen Schwan‘ essen gehen“, hatte uns der Vercharterer ans Herz gelegt. Wir folgen seinem Rat, legen an dem historischen Gasthaus an und lassen uns mit frischen Waldpilzen gefüllte Piroggen schmecken.
Wieder auf dem Wasser, nehmen wir die gut ausgetonnte Fahrrinne Richtung Gizycko (Lötzen) unter den Kiel und steuern nach einer Weile dort den neuen Stadthafen an. Aber nicht nur die „Ekomarina“ macht einen guten Eindruck, auch die ehemalige preußische Provinzstadt hat sich hübsch gemacht.
Rund um den Hafen wurden Lokale und Imbissbuden, Pensionen und Hotels auf Vordermann gebracht, die Weiße Flotte erstrahlt in frischem Glanz, und selbst die preußische Feste Boyen wurde von einem polnischen Verein erneuert und ist nun für Touristen zugänglich. Hoch oben im Café auf dem alten Wasserturm bekommt man beim Rundblick eine Ahnung von der Magie der Seenplatte.
Nicht minder beeindruckend ist die Marina im 20 Kilometer nordwestlicher gelegenen Sztynort (Steinort). Nach der Fahrt durch den Luczanski-Kanal bei Gizycko (Lötzen), ein malerisch-verwunschenes Stück Wasserweg, und einem langen Schlag über den Kisajno See öffnet Neptun in Sztynort nicht nur die Tür zu einem der größten Sportboothäfen der Region. Hier steuern wir auch ein besonderes Kapitel der deutschen Geschichte an.
Schloss Steinort ist heute eine Ruine
„Namen, die keiner mehr nennt“, Titel eines Buches, in dem Marion Gräfin Dönhoff Essays und Geschichten aus ihrer alten Heimat Ostpreußen, dem Leben dort und ihrer Flucht im Januar 1945 vor der Roten Armee erzählt. Ihr Cousin, Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort, wird als Beteiligter am Hitlerattentat in Plötzensee hingerichtet. An den Glanz des prachtvollen Stammsitzes derer von Lehndorff im früheren Steinort, nur wenige Meter oberhalb der heutigen Marina Sztynort gelegen, erinnert heute nur noch eine Ruine.
Nach längerer Besetzung durch die Rote Armee seit 1945 war im Schloss ab den 1950er Jahren eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (PGR) untergebracht. Seit 1990 wechselte das Anwesen mehrfach den Eigentümer (Mehr zur Rettung von Schloss Steinort: im Internet unter deutsch-polnische-stiftung.de).
Derzeit kann das Schloss nur von außen besichtigt werden, da es mit der Zeit stark verfallen ist und mit den Renovierungsarbeiten erst kürzlich begonnen wurde. Das einstige Jagdhaus des Schlosses ließ der Sohn der früheren Polen-Korrespondentin der Deutschen Presseagentur und Dönhoff-Freundin Renate Marsch-Potocka 2005 abtragen und hat es im 80 Kilometer südlicher gelegenen 130-Seelen-Flecken Galkowo (Galkowen) originalgetreu wiederaufgebaut. „Wenn man so will“, erzählt die heute 79-jährige Marsch-Potocka, „leben bei uns Vergangenheit und Gegenwart unter einem Dach.“
Wie sie das meint, zeigt ein Rundgang durch das bilderbuchschöne, mit Weinlaub bewachsene Holzgebäude. Unten in der Gaststube serviert Sohn Aleksander rustikale Regionalküche, im ersten Stock betten Urlaubsgäste ihr müdes Haupt zur Ruhe oder informieren sich im „Dönhoff-Salon“ über die beiden Lebensläufe der ostpreußischen Adeligen.
Wolfschanze: ein Ort des Schreckens
Unsere Bootsfahrt geht weiter. Wieder suchen wir ein Plätzchen für die Nacht. „Sucht ihr einen Liegeplatz?“, schallt eine Stimme von Land aus durch ein Megafon. Wir geben Handzeichen und hoffen, es wird als Ja verstanden. Der Mann zur Megafon-Stimme deutet ein paar Meter weiter auf die Einfahrt in einen wild verwucherten Kanal. „Willkommen am Biwakplatz Mamerki. Ich bin Michael“, stellt sich der Mann nach dem Anlegemanöver per Handschlag vor.
„Wenn ihr etwas braucht, wir haben Bier und Würstchen, Infos über die Region und bestellen euch auch gern ein Taxi zur Wilczy Szaniec, zur Wolfsschanze.“ Geschichtsbuch auf: Wenige hundert Meter entfernt hatten die Nazis Ende 1940 die Bunkeranlagen für das Oberkommando des Heeres aus dem Boden gestampft. 20 Kilometer südwestlicher entstand die „Wolfsschanze“. Von dort aus befehligte Hitler das Unternehmen „Barbarossa“, den Russlandfeldzug, mit seinen furchtbaren Folgen.
Wir besichtigen den Ort des Schreckens, steigen über Wälle, Schanzen. Unwohlsein macht sich bemerkbar angesichts der bis zu zehn Meter dicken Stahlbetonwände der Bunker und einem Blick auf die düsteren Schleusen des nie vollendeten Mamerki Kanals. Anderntags sind wir froh, wieder in die Beschaulichkeit des Mamry Sees steuern zu können.
Gitarrenmusik und gute Laune
Als wollte der Himmel einen Gegenpol zur gestrigen Horrorshow setzen, brennt jetzt die Abendsonne ein grandioses Farbspiel ab. Im Westen glühen die Wattebauschwölkchen feuerrot, im Osten schwimmt eine silberne Mondsichel durch das Dunkel der aufkommenden Nacht.
Vor uns liegt Wegorzewo (Angerburg), nördlichstes Städtchen der Seenplatte, gerade mal 20 Kilometer von der Grenze zu Russlands Exklave Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, entfernt. Wir legen im modernen Stadthafen an. Vor uns hat eine Flottille kleiner Fahrtensegler die Poller in Beschlag genommen, auf den Decks sitzt Jungvolk; Gitarrenmusik und gute Laune schwappen von ihnen herüber.
Hinter der nahen Kirche Piotra i Pawla (St. Peter und Paul) mit ihrem Barockaltar und der ältesten erhaltenen Orgel Masurens verabschiedet sich das heute moderne Polen wieder mit einer Rolle rückwärts in die Kinder- und Jugendtage der Gräfin Dönhoff, in eine Welt also, die für sie „ein großer Himmel … über weiten Feldern, bescheidenen Dörfern, Sonnenblumen … Gänsen auf den Straßen und herrlichen Alleen …“ war.
Tipps für die Reise nach Polen
ANREISE
Ab Berlin etwa mit dem Flieger nach Warschau (zum Beispiel mit Air Berlin) und von dort weiter mit einem Mietwagen oder einem Shuttle des Bootsvermieters (bis zu vier Personen 250 Euro pro Strecke) rund 260 Kilometer nach Gizycko. Der Ort ist von Warschau aus auch mit dem Zug zu erreichen, dies erfordert jedoch mehrfaches Umsteigen.
CHARTER
In Masuren haben inzwischen mehrere Charterfirmen Verleihstationen aufgebaut, darunter Lanke-Charter, Kuhnle-Tours, Le Boat (über Tui) oder Locaboat. Beispiel: Die Basis von Locaboat verchartert zurzeit sechs „Pénichettes“ sowie zwei „Europa“ (jeweils für etwa zwei bis sieben Personen). Die Mietpreise liegen je nach Saison und Boot zwischen 826 und 3346 Euro pro Woche. Hinzu kommen Kaution, Treibstoff (je nach Boot zwischen 4,35 und 9,32 Euro/Stunde), Endreinigung. Hausbootferien sind kein einfaches Produkt, es gibt viel zu beachten. Die Beratung in einem Reisebüro ist ratsam.
AUSKUNFT
Polnisches Fremdenverkehrsamt Berlin, Hohenzollerndamm 151, 14199 Berlin; Telefon: 030 / 210 09 20, Internet: polen.travel/de