Artenschwund bedroht Lebensgrundlagen: "Wir werden dem "vernünftigen Menschen" nicht gerecht"
Der Bericht des Biodiversitätsrates sieht viele Arten bedroht - und dadurch letztlich den Menschen. Ein Interview mit Naturkundemuseumsdirektor Johannes Vogel.
Herr Vogel, 2100 könnte es elf oder zwölf Milliarden Menschen geben. Ist es überhaupt denkbar, dass die gut und in lebenswerter Umwelt werden leben können?
Das ist die Kernfrage. Denn es geht nicht um die Natur. Es geht um uns Menschen. Wie wollen wir leben? Auf dieser Erde existiert ein System namens Natur, das funktioniert seit 3,8 Milliarden Jahren, und zwar nachhaltig. Wir sind Teil davon, machen uns aber paradoxerweise die smarten Prozesse der Natur nicht zu eigen. Die Natur schafft es, in Kreisläufen zu arbeiten, sodass jeder Teil der Natur sein Auskommen hat. Wir nicht.
Wir werden ja auch immer mehr und verbrauchen immer mehr Ressourcen.
Auch da kann man smart sein. Wir wissen, wo man eingreifen muss: Bildung, Erziehung, Frauen stärken. Dass wir wachsen, ist kein Zufall, sondern kulturell geprägt. Es ist nicht nur biologisch determiniert. In Russland etwa schrumpft die Bevölkerung, auch in Europa.
Was müssen wir ändern?
Carl von Linné nannte uns Homo sapiens, „vernünftiger Mensch“. Wir werden dem aber nicht gerecht. Es muss endlich darum gehen, für alle eine lebenswerte Umwelt zu erhalten. Der Mensch hat vor langer Zeit begonnen, Wasser zu kochen. Mit Holz, Kohle, Öl… Über’s Wasserkochen sind wir im Grunde nicht hinaus. Photosynthese etwa ist um vieles smarter als das, was wir bisher für Energiespeicherung oder -gewinnung entwickelt haben. Wir müssen endlich anfangen, nicht über das Morgen nachzudenken, sondern über das Überübermorgen. Wir müssen uns mit der Natur entwickeln.
Anders als immer behauptet wird das nicht ohne Verzicht gehen, oder?
Richtig. So, wie man sich in Europa in den 50er Jahren ernährte – wobei niemand verhungerte –, das war noch ein einigermaßen nachhaltiger Lebenswandel. Es ist also noch nicht so lang her, dass wir im Einklang mit den Ressourcen gelebt haben. Für meine Eltern war es nicht selbstverständlich, überall hinzufliegen. Ohne Verzicht wird es nicht gehen, doch niemand müsste leiden. Aber wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird es für die nach uns in keinem Fall mehr gehen. Es geht um globale und um Generationengerechtigkeit.
Die Rede ist von großer Transformation. Wie muss die qualitativ aussehen?
Wir müssen gesellschaftliche und wissenschaftliche Innovationen neu zusammenführen. Gesellschaft kann neue Regeln des Miteinanders schaffen, auch ohne das revolutionstypische Blutvergießen. Die Abschaffung der Sklaverei und das Frauenwahlrecht sind solch smarte Beispiele. Wir können uns also ändern.
Muss das von oben gesteuert werden, oder muss Wandel von unten kommen?
Beides.
Was tun Sie persönlich?
In unserer Familie ist der Fleischkonsum auf 100 Gramm pro Woche herunter. Und wir versuchen lokal einzukaufen.
Aber Sie und Ihre Mitarbeiter sind weiter ständig per Flugzeug unterwegs.
Ja, es ist pervers. Ich fliege ständig um die Welt, um die Welt zu retten.
Ist der nötige Wandel noch machbar?
Wir können es schaffen, wenn wir es wollen. Es muss dafür aber global wirksame Regulation geben. Und wir müssen etwa in Europa eine grundsätzliche Diskussion beginnen, wie wir leben wollen, was unsere Werte sind und wie wir die erhalten können, sodass es für alle eine Zukunft gibt. Das wird von der Politik noch nicht angegriffen. Ich habe Angst davor, dass wir so weitermachen und einen Punkt erreichen, an dem eine solche Diskussion nicht mehr geführt werden kann, weil man mit dem Rücken an der Wand steht.
Der IPBES-Bericht sagt, dass wir nicht mehr lange warten können.
Das wissen wir schon lange. Wir spielen um die Welt. Die Natur wird uns so oder so überdauern. Die hat schon ganz andere Aussterbekrisen überstanden.
Johannes Vogel ist Botaniker und leitet als Generaldirektor das Berliner Museum für Naturkunde. Die Fragen stellte Richard Friebe