Weltweiter Öko-Check: So schlimm steht es um die Artenvielfalt
Erstmals seit 14 Jahren wieder beurteilt der Welt-Biodiversitätsrat die Lage der globalen Artenvielfalt. Auch Deutschland hat massive Probleme.
Vom 29. April bis 6. Mai treffen sich in Paris Vertreter der Mitgliedstaaten des Welt-Biodiversitätsrates. Am Ende soll eine Gesamtbewertung der globalen Lage hinsichtlich der Artenvielfalt und ihrer Bedrohungen stehen. Grundlage ist der bislang größte und aufwändigste internationale Expertenbericht zum Thema. „Das Artensterben ist eine ähnlich große globale Herausforderung wie der Klimawandel“, sagte Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD).
Was ist Grundlage der Diskussionen auf der Pariser Artenschutzkonferenz?
Seit 2016 hat eine Gruppe von etwa 150 Fachleuten aus 50 Ländern, unterstützt durch Expertise von 310 weiteren Wissenschaftlern, versucht, alle relevanten Informationen zum Thema Biodiversität und deren Bedeutung für menschliche Gesellschaften zu beurteilen. Dafür wurden mehrere Hunderttausend wissenschaftliche und politische Publikationen gesichtet. Etwa 15000 davon wurden letztlich ausgewählt, bewertet und inhaltlich verknüpft. Die dahinterstehende Institution ist ähnlich organisiert wie der Weltklimarat IPCC und heißt „Weltbiodiversitätsrat“ (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES). Dieser zwischenstaatlichen UN-Organisation gehören derzeit 132 Staaten an. Hauptsitz ist Bonn. Der nicht öffentliche Expertenbericht ist Grundlage der Diskussionen in Paris. Ein offizielles Dokument („IPBES Global Ássessment“) soll zum Abschluss der Konferenz vorgestellt werden.
Was ist das Besondere an dem Bericht?
Das „Global Assessment“ wird der erste weltweite Lagebericht zur Artenvielfalt seit dem „Millennium Ecosystem Assessment“ der Vereinten Nationen von 2005 sein. Laut Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle, einem der Vorsitzenden der Expertengruppe, liefert er in bisher nicht dagewesener Tiefe „die aktuellsten Fakten zum weltweiten Zustand unserer Ökosysteme“. Er soll auch eine an diesen Fakten orientierte Bewertung der Bedeutung dieser Ökosysteme von Gesundheit bis Wirtschaftskraft, der so genannten „Ökosytemdienstleistungen“, ermöglichen. Laut UFZ sind in den Bericht zusätzlich zu wissenschaftlichen Bewertungen in großem Umfang auch erstmals indigenes Wissen und regionale Erfahrungen und Know-How eingeflossen.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Konkrete Resultate sind vor der Konferenz nicht veröffentlicht worden. Settele etwa aber sagte der Deutschen Presseagentur, der Trend sei „nach wie vor negativ“. Aus von dem Bericht unabhängigen wissenschaftlichen Einzelveröffentlichungen beteiligter Wissenschaftler geht etwa hervor, dass die Intensivierung der Produktion auf landwirtschaftlichen Flächen tatsächlich massive Verluste der Artenvielfalt bedingt. So haben UFZ-Forscher aus verfügbaren Daten errechnet, dass eine Ertragssteigerung auf einer zuvor „mittelintensiv“ genutzten Fläche um 85 Prozent fast ein Viertel der zuvor dort heimischen Arten verschwinden lässt. Im Vorfeld wurde zudem vermeldet, dass etwa eine Million Spezies kurz- oder mittelfristig bedroht seien und zum Teil aussterben würden, wenn so weitergemacht werde wie bisher. Allerdings sind solche Angaben mit Unsicherheiten behaftet, unter anderem, weil ein Großteil der gegenwärtig lebenden Arten – und hier vor allem ohnehin schon seltene – noch gar nicht wissenschaftlich beschrieben sind.
Der Bericht wird auch bewerten, wie erfolgreich ältere Vereinbarungen zum Arten- und Lebensraumschutz waren. Auch hier erlauben wissenschaftliche Studien aus jüngerer Zeit Rückschlüsse. Eine kam zu folgendem Ergebnis: Zwar würden, wie in den „Aichi-Zielen“ (benannt nach der japanischen Präfektur, wo sie 2010 beschlossen wurden) vereinbart, mehr Schutzgebiete geschaffen. Diese aber befänden sich häufig in nicht besonders problematischen, fast menschenleeren Regionen. Demgegenüber sei die Effektivität des Schutzes in Gebieten, wo die Bevölkerung wächst, in vielen Fällen sogar stark zurückgegangen – ein Netto-Verlust an Natur- und Artenschutz.
Zu welchen Resultaten kommen andere Expertengremien?
Erst im März wurde bei der Umweltkonferenz in Nairobi eine Zusammenfassung des sechsten Global Environment Outlook („Ausblick auf die globale Umweltsituation“) präsentiert. Erstellt wurde dieser durch eine mehr also 200 Experten zählende Forschergruppe. Sie warnte, sich verschlechternde Umweltbedingungen seien zunehmend Ursache von Millionen von Erkrankungen und Todesfällen – und einen sich weiter beschleunigenden Artenrückgang. Sie schlossen, dass weitere Bemühungen wie die bisherigen, die sich vor allem auf Schutz einzelner Gebiete sowie umweltverträglichere Verbesserung und Effizienzsteigerung bestehender Abläufe konzentrieren, nicht ausreichen werden. Notwendig seien „transformative Veränderungen“, unter anderem neue institutionelle Rahmenbedingungen und ein weitgehender Umbau von Sozialsystemen und Produktionsstrukturen. Sogar Umwälzungen bei Werten und kulturellen Normen seien notwendig.
Welche Arten sind am stärksten bedroht?
Beispiele sind etwa das Sumatra-Nashorn, von dem es noch etwa 200 Tiere gibt, die Hunter-Antilope in Ostafrika oder die Berggorillas. Kaum in der Öffentlichkeit präsent sind viele bedrohte Pflanzen wie etwa die Kiefernart Abies beshanzuensis, die es nur an wenigen Orten im Hochgebirge in China gibt. Zu den gefährdetsten Arten in Deutschland gehören Alpensalamander, Bekassine und die auch kaum bekannte Schließmundschnecke.
Welches sind die wichtigsten Herausforderungen in Deutschland?
Deutschland hat trotz funktionierenden Naturschutzes und Umweltkontrollen massive Probleme mit Artenschwund und aus dem Gleichgewicht geratenden Ökosystemen. So stammt die weltweit bislang meistbeachtete Studie zum Insektensterben aus der Umgebung von Krefeld. Dort wurden auch in geschützten Gebieten massive Rückgänge bei Insektenpopulationen dokumentiert. Neben Lebensraumverlust gilt hier – wie auch weltweit – intensive Landwirtschaft und Pestizidnutzung als wichtiger Auslöser. Zudem bedrohen eingeschleppte Arten die einheimische Flora und Fauna.
Welche Rolle spielt der Klimawandel beim Artensterben?
Klimaveränderungen können manchen Arten sogar helfen. So dehnen sowohl Pflanzen als auch Tiere ihren Lebensraum zunehmend in höhere Gebirgsregionen aus. In sehr großen Höhen haben dort bislang ansässige Arten aber dann keine Rückzugsmöglichkeiten mehr. Zudem breiten sich tropische und subtropische Spezies sowohl im Meer und Süßwasser als auch an Land immer weiter nach Norden und Süden aus. Das hat nicht nur zur Folge, dass einheimische Arten verdrängt werden, sondern auch direkte Risiken für Menschen können sich so erhöhen: So werden etwa in Deutschland in den letzten Jahren immer öfter Stechmücken- und Zeckenarten dokumentiert, die bekannte Überträger gefährlicher Infektionskrankheiten sind.
Was für Implikationen für politische Entscheider sind zu erwarten?
Ähnlich wie bei Klimakonferenzen dürfte auch am Ende dieses Prozesses ein Dokument stehen, das neben der Wissenschaft auch politische und wirtschaftliche Interessen beteiligter Staaten repräsentieren wird. Trotzdem glauben Fachleute, dass das „Global Assessment“ dazu führen kann, dass Probleme mit größerer Dringlichkeit als bisher angegangen werden.
Welche Möglichkeiten, positiven Einfluss zu nehmen, haben Einzelne?
Einzelpersonen können nicht nur politisch als Aktivisten versuchen, die Politik und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wie es im Bereich Klima derzeit Greta Thunberg öffentlichkeitswirksam tut. Sie können auch schlicht versuchen, den eigenen sogenannten ökologischen Fußabdruck zu verringern. Möglich ist das unter anderem dadurch, auf den Ressourcenverbrauch konsumierter Produkte und Dienstleistungen zu achten: Ein Rindersteak etwa verbraucht mehr Ressourcen und belastet auch das Klima stärker als ein Bohneneintopf mit regionalen Zutaten, eine Flugreise nach wohin auch immer verbraucht mehr als die Radtour auf Fontanes Spuren, eine Villa im Grünen mehr als eine kleine Hochhauswohnung. Im privaten Bereich ist es zudem selbst auf engstem Raum möglich, für Tiere Lebensräume und Nahrungssuch-Möglichkeiten zu verbessern, etwa durch selteneres Rasenmähen oder das Schaffen von Nist- und Pollensammelmöglichkeiten für Wildbienen auf dem Balkon oder am Fensterbrett.