Ungewöhnliche Tiere: Die Lichtfresser
Nur Pflanzen können Sonnenenergie nutzen? Nein, auch einige Tiere haben Wege gefunden, beim Sonnenbaden satt zu werden. Forscher wollen das anderen Lebewesen beibringen – und in ferner Zukunft vielleicht auch dem Menschen.
Eigentlich ist es nur eine Redewendung: „Sonne tanken.“ Der Tiefseebiologe Chuck Fisher nimmt den Spruch allerdings wörtlich. Im „Future“-Magazin der BBC präsentierte er seine Zukunftsvision: Menschen, die ein paar Stunden am Strand liegen, ab und zu einen kühlen Drink schlürfen, und die Sonnenenergie nutzen, um satt zu werden. Buchstäblich All-inclusive-Urlaub. „Meine Idee ist es, Menschen einzellige, photosynthetische Algen unter die Haut zu setzen“, sagt der Forscher von der Penn State University nahe Pittsburgh. Das würde die Menschheit noch bunter machen. „Aber wichtiger ist, dass diese kleinen Symbionten den Großteil der Nahrung produzieren würden, die wir brauchen.“
Absurd? Wider die Natur? Weder noch. Tatsächlich suchen Forscher bereits nach Wegen, die pflanzliche Photosynthese in tierische Organismen zu transplantieren. Und die Natur hat es vorgemacht. Zum Beispiel bei der Schnecke Elysia timida, die auf den ersten Blick wie ein winziges grünes Blatt wirkt. „Beim Schnorcheln im Mittelmeer findet man die Tiere zum Beispiel auf Schirmchenalgen an Felsen,“ sagt die Biologin Heike Wägele von der Universität Bonn. Die Schnecke ist kaum mehr als einen Zentimeter groß, schimmert smaragdgrün und ist eines der ungewöhnlichsten Tiere der Welt. Denn sie klaut den Algen, die sie frisst, ihre Chloroplasten, die Photosynthese-Organe, und baut sie in ihren eigenen Zellen ein. Elysia timida ist ein Tier mit eingebauten Solarzellen, ein Zwitter zwischen tierischem und pflanzlichem Leben.
Schnecken der Elysia-Gattung kennen Biologen schon seit dem 19. Jahrhundert. Doch erst 1969 entdeckte der Biologe Robert Trench, woher die grüne Färbung von Elysia chlorotica kommt, einer Schwesterart von Elysia timida, die in den Marschwiesen der nordamerikanischen Ostküste lebt: Offenbar nagen die jungen Schnecken ein Loch in die Fadenalge Vaucheria und saugen dann wie mit einem Strohhalm den Zellinhalt samt Chloroplasten heraus. Anschließend wird die Beute von den Darmzellen der Schnecke wie jede andere Nahrung aufgenommen, allein die Chloroplasten werden rätselhafterweise nicht verdaut. Stattdessen hortet die Schnecke Abermillionen der geklauten Plastiden in den Zellen ihres weitverzweigten Darms, der den flachen Schneckenkörper wie die Rippen eines Blattes durchzieht. Angesichts des dreisten Diebstahls taufte Trench die in die Schnecken transplantierten Pflanzenorganellen „Kleptoplasten“.
Die Schnecken sind nicht die einzigen Tiere, die Wege gefunden haben, die Photosynthese der Pflanzen für sich nutzbar zu machen. Riesenmuscheln, Schwämme, Korallen, Anemonen, Plattwürmer und Seescheiden kooperieren mit Grünalgen oder Blaualgen. Der Deal hilft beiden Partnern. Bei der Photosynthese produzieren Pflanzen aus Licht, Wasser und Sonnenlicht, Sauerstoff und Zucker. Während die Tiere von den Zuckerverbindungen profitieren, erhalten die Algen als Gegenleistung Nährstoffe und Schutz.
"Das ist wie eine Organtransplantation"
Lange dachten Biologen, dass sich dieses Zusammenspiel nur für solche relativ unbeweglichen, eben pflanzenartig gemächlichen Tiere eigne. Doch es gibt auch einen flinken Fleckensalamander, Ambystoma maculatum, der einzellige Algen im Inneren seiner Hautzellen herumträgt und sogar an nachfolgende Generationen weitergibt. Vermutlich profitieren die Embryonen der Salamander, die in sauerstoffarmer Umgebung aufwachsen, von dem Sauerstoff, der bei der Photosynthese der Algen abfällt.
Die Elysia-Schnecken sind jedoch einzigartig, weil sie den Algen komplette Chloroplasten klauen und über Monate und Jahre stabil einbauen können. „Das ist wie eine Organtransplantation“, sagt William Martin von der Universität Düsseldorf. Gemeinsam mit der Schneckenforscherin Wägele versucht der Molekularbiologe seit 2009, die Rätsel um die Kleptoplasten zu lösen. Warum werden die Plastiden von der Schnecke nicht verdaut? Und warum können sie im Tier monatelang weiter Photosynthese betreiben?
Antworten auf diese Fragen würden nicht allein die Neugier von Biologen stillen, sie könnten auch zu praktischen Anwendungen führen. Zwar hat noch niemand ernsthaft versucht, Chuck Fishers Idee umzusetzen und Menschen Algen unter die Haut zu setzen. Doch vor ein paar Jahren hat sich die Biologin Christina Agapakis an der Harvard University bei Boston immerhin an Fische gewagt. Sie verpflanzte photosynthesefähige Blaualgen in die Zellen von Zebrafisch-Embryonen. Die Algen überlebten in den transparenten Fischen und wandelten weiter Licht in chemische Energie um. Aber von künstlichen Fischen, die sich von der Photosynthese der transplantierten Algen ernähren, sind die Forscher weit entfernt.
Fische? Lieber nicht!
Dennoch: Die Vision, Lebewesen die Photosynthese beizubringen, sei in absehbarer Zeit umsetzbar, meint der Chloroplasten-Spezialist Andreas Weber von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Aber es wäre ein Riesen-Projekt, vergleichbar mit den Dimensionen der Mondlandung.“ Und Fischzellen sind dafür nicht die besten Kandidaten. „Das kann man mit einzelligen Organismen besser“, sagt Weber, der unter anderem mit Amöben und dem Schleimpilz Dictyostelium arbeitet.
Tatsächlich gebe es solche Versuche schon seit den siebziger Jahren, sagt Weber. Ziel sei es, „Designer-Bakterien mit neuen, nützlichen Eigenschaften herzustellen, die Sonnenenergie einfangen und nutzen, um hochwertige Roh- und Treibstoffe zu produzieren.“ Um solchen Designer-Bakterien näher zu kommen, haben die Harvard-Forscher begonnen, die Blaualgen gentechnisch zu verändern und auf ihre zukünftige Aufgabe als Chloroplast in anderen Organismen einzustimmen. Ein Gen aus dem Pestbakterium namens Invasin soll die Aufnahme in die Wirtszelle erleichtern und ein Gen namens Listeriolysin aus einer weiteren Bakterienart das Verdauen der Eindringlinge verhindern. Die so veränderten Cyanobakterien konnten in Säugetierzellen von Hamstern und Mäusen überleben und sich sogar teilen.
Weber arbeitet auch daran, Hefezellen die Photosynthese beizubringen. „In die Hefe kann man künstliche Chromosomen mit Hunderten von Genen einbringen“, sagt er. Innerhalb kurzer Zeit durchläuft die Hefe Tausende von Generationen, und in jeder könnte man die Exemplare wählen, bei denen die photosynthetische Alge und die Wirtszelle besonders gut harmonieren. In erster Linie ist das Ziel solcher Experimente, besser zu verstehen, wie Photosynthese funktioniert und wie zwei unterschiedliche Organismen zu einem verschmelzen können. Je weiter das Verständnis der natürlichen Prozesse geht, umso besser müssten sie sich aber auch im Labor nachbauen lassen. „Was ich verstanden habe, sollte ich auch bauen können – und umgekehrt“, zitiert Weber das Motto der Synthetischen Biologie.
Die Kleptoplasten tragen nicht viel zum Energiehaushalt der Schnecke bei
Bis es so weit ist, ist noch viel zu forschen. Schon das Wissen über den Kleptoplasten-Trick der Elysia-Schnecken ist lückenhaft. Bislang gingen Biologen einfach davon aus, dass die Schnecken die Kleptoplasten nutzen, um in Hungerphasen Energie aus der Sonne zu beziehen. Dafür spricht, dass sie in der Tat über ein Jahr ohne Algen-Futter überleben können. Aber leben die Tiere in dieser Zeit wirklich allein von der Photosynthese? Wäre das richtig, müssten die Schnecken sterben, wenn die Photosynthese versuchsweise gestoppt würde. Dieses Experiment haben Sven Gould und Gregor Christa, Kollegen von William Martin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, kürzlich gewagt: Nach zwei Monaten im Dunkeln waren die Schnecken so lebendig wie zuvor. „Das hat uns sehr überrascht“, sagt Gould.
Zwar ist Gould nach wie vor überzeugt, dass die Photosynthese der Kleptoplasten den Schnecken hilft. „Aber der prozentuale Anteil dieser Photosynthese am Gesamtenergiehaushalt der Schnecke dürfte gering sein.“ Derzeit untersuchen Gould, Wägele und Martin gemeinsam, wie die Schnecken sonst noch von den Chloroplasten profitieren könnten. Eine Hypothese ist, dass sie „wie ein Sandwich im Kühlschrank“ dienen, also als Nahrungsreserve für schlechte Zeiten. „Es gibt kaum etwas Nährstoffreicheres in der Natur als Plastiden“, sagt Gould. „Da ist DNS drin, Spurenelemente, Unmengen von Lipiden und jede Menge Eiweiß.“ Wenn die Chloroplasten Photosynthese betreiben, dann profitiert die Schnecke also vielleicht nicht sofort, aber sobald sie in Hungerphasen die Darmzellen abbauen muss.
Viele Rätsel um den Chloroplasten-Dieb Elysia sind noch nicht gelöst. Warum bleiben die Kleptoplasten überhaupt am Leben und können weiter Photosynthese betreiben? Dafür braucht es der Theorie nach eigentlich gehörige Mithilfe aus dem Erbgut der Alge: „Chloroplasten waren ursprünglich einmal selbstständige, photosynthetische Bakterien mit eigenem Erbgut, mit dem sie alle Lebensprozesse selbst steuern konnten“, sagt Martin. Doch als diese Bakterien vor schätzungsweise 1,5 Milliarden Jahren von den Vorläufern von Algenzellen in deren Zellinnerem eingeschlossen wurden und sich zu Chloroplasten entwickelten, wurde ein Großteil ihrer Gene, rund 3000, vom Bakterien- ins Algen-Erbgut verlegt. „Die Chloroplasten von Landpflanzen können deshalb nur 5 bis 10 Prozent ihrer Proteine selbst produzieren“, sagt Martin. „90 Prozent der Chloroplasten-Proteine werden vom Erbgut der Alge hergestellt und in die Chloroplasten transportiert, darunter auch essenzielle Proteine für die Photosynthese.“ Damit die Photosynthese der Kleptoplasten monatelang funktionieren kann, bräuchte es also Protein-Nachschub aus der Alge. Doch dieser Nachschub fehlt in der Schnecke natürlich, weil deren Erbgut die pflanzlichen Gene nicht hat.
Bevor es grüne Menschen geben kann, müssen die Forscher noch "einige Details" klären
Eine Zeit lang vermuteten Forscher, dass sich die Schnecke die nötigen Gene beim Fressen der Algen einverleibt. Doch dafür fand der Molekularbiologe Martin keine Hinweise: „Es gibt keinen Gentransfer von der Alge in die Schnecke.“ Die Antwort scheint vielmehr in den Kleptoplasten selbst zu liegen. Denn der Diebstahl funktioniert nur mit ganz bestimmten Algen – Algen, deren Chloroplasten ursprünglicher und deshalb selbstständiger sind. Gemeinsam mit seinem Kollegen Sven Gould fand er heraus, dass die Kleptoplasten von Elysia timida ein Gen namens ftsH enthalten, das beispielsweise den Chloroplasten von Landpflanzen fehlt. Es schützt die Chloroplasten vor irreparablen Schäden, indem es ein defektes Protein aus dem Photosynthese-Komplex abbauen kann, das sonst zerstörerische Sauerstoffradikale produziert. „Kleptoplasten, die lange überleben, enthalten ftsH, alle kurzlebigen haben es nicht“, sagt Martin.
Was Gould, Martin und Wägele über die Kleptoplasten der grünen Schnecken herausfinden, kann Forschern wie Weber oder Agapakis helfen, die Chloroplasten in Nutzpflanzen stabiler und effektiver zu gestalten oder gar Chloroplasten-Transplantationen in andere Organismen zu ermöglichen. Visionen von grünen Menschen mit Photosyntheseorganen in der Haut dürften allerdings nicht allzu bald Realität werden. Das gesteht auch Chuck Fisher ein: „Ich muss zugeben, dass es dazu noch mehr als ein paar kleine Details zu klären gibt.“
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