Immunologe fordert, Impfstoffe besser zu nutzen: „Wir sollten uns auf die Erstimpfungen konzentrieren“
Der Charité-Immunologe Leif Erik Sander schlägt im Interview vor, die zweite Impfdosis zu verschieben. So könnten schneller mehr Menschen geschützt werden.
Angesichts des derzeit knappen Angebots an Impfstoff gegen Covid-19 plädiert der Berliner Immunologe Leif Erik Sander dafür, die Zweitimpfungen zu verschieben und mit dem so freiwerdenden Impfstoff mehr Menschen mit der ersten Dosis zu versorgen. Denn der Schutz sei bereits zwei Wochen nach der ersten Dosis stark genug, um viele Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 zu vermeiden.
Herr Sander, von dem eh schon sehr knappen Gut Impfstoff gegen das Coronavirus werden Vorräte abgezwackt, damit die vorgeschriebene zweite Dosis binnen drei Wochen gegeben werden kann. Wieso muss der Impfstoff gegen das Coronavirus zwei Mal verabreicht werden?
Das Prozedere beruht auf der Funktionsweise des menschlichen Immunsystems. Dieses besteht aus zwei Armen, dem angeborenen, das generell gegen körperfremde Stoffe vorgeht, und dem erworbenen Immunsystem, das im Laufe des Lebens immer neue Krankheitserreger kennenlernt und sich „einprägt“, mit welchen speziellen Antikörpern oder Zellen man sie am besten bekämpft. Um letzteres geht es bei den Impfungen.
Nach der ersten Impfung werden einzelne neue Immunzellen gebildet, die den gespritzten Erreger oder seine Teile, also die Antigene, erkennen und bekämpfen. Nach der Impfung vermehren sich diese auf den Erreger spezialisierten Zellen und produzieren immer mehr Antikörper und T-Zellen. Der Impfschutz entsteht. Mit der zweiten Impfung erhöht sich die Zahl der Zellen und der Körper verbessert und verfeinert die Fähigkeit der Immunzellen, den Erreger zu erkennen und zu blockieren.
Also ist die zweite Dosis eigentlich nur ein „Nice to have“, aber nicht zwingend nötig?
Doch, sie ist sehr wichtig, um einen noch stärkeren und vor allem länger anhaltenden Schutz aufzubauen. Das darf man nicht unterschätzen. Wir wollen ja nicht warten, bis die Antikörper nach der ersten Impfung wieder abfallen, sondern im Gegenteil die Effizienz der Abwehr mit der zweiten Dosis stärken. Doch dafür ist es nicht zwingend nötig, nach exakt drei Wochen die zweite Impfung zu geben. Es ist ausreichend, das innerhalb des durch die Ständige Impfkommission (Stiko) empfohlenen Intervalls von drei bis sechs Wochen zu tun. Möglicherweise bleibt dazu sogar noch mehr Zeit, aber dazu haben wir noch keine guten Daten.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]
Wie erklärt sich der Mindestabstand, der zwischen den beiden Impfungen eingehalten werden muss?
Für das Durchlaufen der verbessernden Lebenszyklen und damit den Aufbau des Immunschutzes brauchen die Immunzellen ihre Zeit, in der Regel sind das um die zwei bis drei Wochen. Wenn man in diese Verbesserungszyklen zu früh mit einer zweiten Impfung hineingeht, erreicht man nicht den gewünschten verstärkenden Effekt. Die zweite Dosis verpufft ohne wesentlichen zusätzlichen Nutzen.
In der derzeit laufenden Impfkampagne wird die Zweitimpfung sehr starr nach 21 oder 28 Tagen terminiert. Zu Recht?
Dieser Abstand von um die drei Wochen ist der Mindestabstand, aber nicht der exakt einzuhaltende Abstand. Das sagt so auch die Stiko. Dieser Mindestabstand variiert bei den verschiedenen Impfstoffen. Bei Pfizer/Biontech zum Beispiel sind das 21 Tage, bei Moderna 28 Tage. In den Zulassungsstudien für den Biontech-Impfstoff wurde die Wirkung von Abständen zwischen 21 und bis zu 42 Tagen untersucht. Diese Zeitspanne hat die Stiko übernommen für ihre Empfehlung.
Was passiert, wenn die man den Drei-Wochen-Abstand verpasst?
Immunologisch betrachtet ist bei vielen Impfungen der Effekt der zweiten Dosis sogar höher, wenn der Abstand vergrößert wird. Das hat man zum Beispiel bei dem Impfstoff von AstraZeneca beobachtet. Dort wurde zufälligerweise vielen Probanden die zweite Dosis erst nach zwölf Wochen verabreicht, weil es zwischenzeitlich Lieferengpässe gab. Und bei diesen Probanden stellte man fest, dass die Immunantwort, also die Menge der gebildeten Antikörper, höher war, als bei den in kürzeren Abstand Geimpften. Diesen Effekt kennt man auch von anderen Impfungen, wie der gegen Tetanus oder auch gegen Hepatitis B, wo die dritte Impfung nach einem halben Jahr erfolgt und noch mal einen ordentlichen Boost, also verstärkenden Effekt bewirkt.
„Bereits nach der ersten Dosiswird ein Schutz aufgebaut“
Ist die Drei-Wochen-Regel also einfach nur ein Missverständnis?
Leider ja. Am Anfang hatte die Stiko in ihren Empfehlungen tatsächlich „21 Tage“ als Abstand kommuniziert. Später wurde das entsprechend der Studienlage geändert in „ab 21 bis 42 Tage“. Doch da war in der praktischen Umsetzung der Impfpläne daraus schon ein quasi Sollabstand von drei Wochen geworden. Deshalb wird bei den meisten Personen, die die erste Impfung erhalten haben, relativ starr bereits für drei Wochen später ein Termin für die zweite Dosis vergeben. Das ist ja auch nachvollziehbar: Die Menschen haben verstanden, dass gegen das Coronavirus zwei Impfungen in Folge nötig sind, und denken, nach der ersten Dosis ist man noch nicht geschützt. Deshalb will man auch so schnell wie möglich die zweite Impfung geben.
Und das stimmt so nicht?
Die Zulassungsstudien zeigen, dass bereits nach der ersten Dosis ein Schutz aufgebaut wird. Es dauert um die zwei Wochen, bis die Immunantwort ausgeprägt wird, also genügend Antikörper gegen das Coronavirus gebildet wurden. In den Studiendaten kann man gut ernennen, dass nach zwölf bis 14 Tagen nach der ersten Impfung die Zahl der Erkrankten unter den erstmals geimpften Probanden nicht mehr wesentlich steigt - im Gegensatz zur nichtgeimpften Kontrollgruppe. Das bestätigen auch erste Ergebnisse aus Israel, wo ja bereits eine sehr große Anzahl von Menschen geimpft ist.
Eine Krankenkasse hat die Infektionsraten von mehr als 50.000 ihrer immunisierten Mitglieder mit weiteren 200.000 noch nicht geimpfter Versicherten verglichen. Es zeigte sich, dass am 23. Tag nach der ersten Impfung die Infektionsrate 60 Prozent niedriger war, als bei den Nichtgeimpften.
Aber bis dahin kann man folglich trotz Impfung weiterhin an Covid-19 erkranken?
Ja, und solche Fälle wurden ja auch bereits berichtet. Wahrscheinlich ist die Empfänglichkeit für eine Corona-Infektion in den zwei Wochen nach der Erstimpfung genauso hoch, wie bei ungeimpften Menschen. Nur hat das eben nichts damit zu tun, ob man schon die zweite Impfdosis erhalten hat oder nicht, sondern einfach nur mit der Zeit, die nötig ist, den Impfschutz aufzubauen.
Wäre es da nicht sinnvoll, die Zweitimpfungen etwas nach hinten zu stellen und mit den verfügbaren Impfdosen zunächst einmal so vielen Menschen wie möglich die Erstdosis zu verabreichen?
Um das noch einmal ganz klar zu sagen: Ich bin nicht dafür, die Zweitimpfung wegfallen zu lassen. Sie ist nötig, um den vollständigen Schutz zu erreichen. Aber die genannten Daten aus den Zulassungsstudien und aus Israel machen Mut, dass ein guter Schutz bereits zwei Wochen nach der ersten Impfung entsteht.
Deshalb bin ich absolut dafür, sich auf die Erstimpfungen zu konzentrieren und möglichst vielen Menschen so schnell wie möglich einen ersten Schutz zu geben und damit das Risiko von schweren Verläufen von Covid-19, das bei ungeschützten Personen besteht, massiv zu verringern. Es ließen sich viele Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus vermeiden, wenn man den Abstand zur Zweitimpfung streckt.
[Mehr zum Thema für Abonnenten: Mehrere Vakzine stehen kurz vor der Zulassung. Wie funktionieren die Impfstoffe, was ist bisher über ihre Wirksamkeit bekannt und wann können sie in der EU eingesetzt werden?]
Nun gibt es Experten, die es für riskant halten, die zweite Impfung aufzuschieben. Sie argumentieren, dass nach der ersten Impfung der Schutz noch nicht komplett sei. Dadurch könnten sich besonders resistente Mutanten des Virus durchsetzen und so vielleicht den Impfstoff gänzlich unwirksam machen.
Diese Befürchtung halte ich für unbegründet. Die bisher aufgetauchten Mutanten des Virus sind in Weltgegenden entstanden, in denen besonders viele Menschen bereits mit dem Coronavirus infiziert waren und eine hohe Zahl von genesenen und damit unterschiedlich stark immunisierten Menschen lebt – im brasilianischen Manaus zum Beispiel. Offenbar benötigt das Virus einen hohen Durchseuchungsgrad, eine starke Abstufung der Immunität und Zeit, um erfolgreich zu mutieren. Bei den Impfstoffen reden wir ja leider zunächst nur von einer relativ geringen Gruppe, so dass sich dadurch meiner Meinung nach keine Mutanten durchsetzen sollten. Außerdem reden wir ja nur von einer relativ kurzen Zeit, um die man die zweite Impfung verlegen kann.
Wie ist das bei Menschen, die von einer Covid-Erkrankung genesen sind, also schon eine gewisse Immunität aufgebaut haben. Für sie wäre die erste Impfung doch eigentlich schon die zweite, oder?
Ja, im Prinzip schon. Bei den Genesenen ist die erste Impfung wahrscheinlich schon die Booster-Dosis. Doch werden diese Menschen trotzdem auch die zweite Impfung erhalten, denn die Covid-Immunisierung ist nun mal mit zwei Impfungen zugelassen.
Dass die Impfung vor der Erkrankung schützt, weiß man. Unklar ist aber, ob sie auch die Übertragung von Coronaviren unterbindet, die Geimpften also für nichtgeimpfte Menschen eine Infektionsquelle sein können. Wann werden wir darüber mehr wissen?
Ob Geimpfte infektiös sein können, wissen wir leider tatsächlich noch nicht. Aber Untersuchungen dazu laufen bereits seit längere Zeit, auch an der Charité. Diese sind aber sehr kompliziert und zeitaufwändig. Ich schätze, dass es noch ein bis zwei Monate dauern wird, bis wir dazu auf der Grundlage von Studien etwas sagen können. Der beste Schutz ist und bleibt aber, dass eine große Zahl von Menschen geimpft und damit gegen eine Erkrankung geschützt ist, ob sie nun von ungeimpften oder geimpften Menschen übertragen wird.