Foodwatch zur Zuckerdebatte: "Wir müssen unsere Kinder schützen!"
Matthias Wolfschmidt, stellvertretender Geschäftsführer von Foodwatch, fordert von der Politik striktere Regeln für Lebensmittelmarketing.
In Deutschland sind 15 Prozent der Kinder übergewichtig, sechs Prozent sogar adipös – sie sind besonders gefährdet durch Diabetes, Bluthochdruck oder Herzerkrankungen. Im Vergleich zu den 1980er und 90er Jahren ist der Anteil übergewichtiger Kinder um 50 Prozent gestiegen. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, reichen Appelle an Eltern oder Ernährungsbildung an Schulen allein nicht aus. Margaret Chan, Generaldirektorin der UN-Weltgesundheitsorganisation WHO, hat es im Juni 2013 auf den Punkt gebracht: „Nicht ein einziger Staat hat es geschafft, die Übergewichtsepidemie in allen Altersgruppen zurückzudrängen. Das ist kein Versagen der Willenskraft einzelner. Es ist liegt am fehlenden politischen Willen, sich mit den Großen der Industrie anzulegen.“
Die Bundesregierung scheut die Konfrontation mit der Lebensmittel-Lobby
Und auch die Bundesregierung, allen voran Ernährungsminister Christian Schmidt, scheut offensichtlich die Konfrontation mit der Lebensmittel-Lobby. Weiter als für „Aufklärung“ und „freiwillige Initiativen“ zu trommeln, reicht der Mut nicht. Dabei sind sich Experten bis hin zur Weltgesundheitsorganisation einig: Die Übergewichtsepidemie kann nur erfolgreich zurückgedrängt werden, wenn sich auch die Lebensverhältnisse dahingehend ändern, dass ausgewogenes Ernährungsverhalten erleichtert wird.
Werbung für ausgewogene Produkte ist selten
Im Supermarkt, im Fernsehen und Internet, auf Sportveranstaltungen und sogar in der Schule: Die Lebensmittelwirtschaft bombardiert unsere Kinder mit Werbung. Es ist ein falsches Paradies aus Süßigkeiten, Limonaden und Snacks, in das die Kinder mit Raffinesse, Schamlosigkeit und Wucht gelockt werden. Werbung für ausgewogene Produkte hat Seltenheitswert. Ganz einfach, weil die Hersteller mit Obst und Gemüse Margen von weniger als fünf Prozent erzielen, während sie bei Süßwaren, Limo und Snacks Umsatzrenditen von 15 Prozent und mehr verbuchen können. Lebensmittelunternehmen haben also betriebswirtschaftlich größtes Interesse daran, möglichst viele dieser unausgewogenen Produkte zu verkaufen. Die Werbebudgets entlarven die Kalkulation: Um Obst und Gemüse zu bewerben, investierte die Branche im Jahr 2014 nicht einmal 20 Millionen Euro, für Süßwaren hingegen mehr als 700 Millionen Euro!
Die Industrie hat ein mannigfaltiges Angebot von "Kinderlebensmitteln"
Entsprechend sieht das Angebot an „Kinderlebensmitteln“ aus. Eine aktuelle Studie von Foodwatch zeigt: Trotz einer „ freiwilligen Selbstverpflichtung“ vermarkten die größten Lebensmittelhersteller in Deutschland fast nur unausgewogene Produkte gezielt an Kinder – von Schokolade und absurd überzuckerten Frühstücksflocken über Limonaden bis hin zu fettig-salzigen Chips. Von Ferrero und McDonald’s über Unilever und Mondelez bis hin zu Nestlé und Coca Cola bildet das Who-is-Who der Branche eine verführerische Einheitsfront. So kauft man sich Kinder – so „erzieht“ man sich künftige Kunden. Soll man es Chuzpe oder Dummheit nennen, wenn der Cheflobbyist der deutschen Lebensmittelindustrie, Christoph Minhoff, im „Wirtschafswoche“-Interview zu Protokoll gibt, „obwohl die Industrie solche Produkte anbietet, sind eben nicht 100 Prozent, sondern nur sechs Prozent der deutschen Kinder adipös, die restlichen 94 Prozent also nicht“?
Gesundheitsexperten wollen Lebensmittelmarketing für Kinder reglementieren
„Nur“ sechs Prozent adipöse, also fettleibige Kinder sind für die Branche offenbar zu wenig, um ihre Mitverantwortung einzugestehen. Wie hoch müsste die Fettleibigkeitsquote denn liegen? Es geht nicht darum, Süßigkeiten für Kinder zu verbieten. Sondern darum, endlich unsere Kinder vor der Übergriffigkeit der Lebensmittelwirtschaft zu schützen. Gesundheitsexperten fordern schon lange, Lebensmittelmarketing an Kinder zu beschränken: Nur noch ausgewogene Produkte sollten an Kinder beworben werden dürfen. Genau das muss die Politik gesetzlich umsetzen. Denn mit Aufklärung und Appellen an Eltern und Großeltern, mit Sportprogrammen und Ernährungsunterricht ist es nicht getan. WHO-Chefin Margret Chan hat Recht: „Wenn die Industrie in politische Entscheidungsfindungen eingebunden ist – seien Sie sicher, dass die wirksamsten Regulierungsmaßnahmen heruntergespielt oder ganz verhindert werden.“
Matthias Wolfschmidt ist stellvertretender Geschäftsführer von Foodwatch