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Immer auf der Suche. Im Internet fahnden Nutzerinnen und Nutzer ständig nach neuen ästhetischen Reizen – und versuchen sich als ausdrucksstarke Persönlichkeiten zu inszenieren. 
©  Kitty Kleist-Heinrich

Das neue Regime der Originalität: Wir müssen kreativ sein

Der Künstler ist zum Rollenmodell der Spätmoderne geworden: Nichts wäre absurder, als heute unkreativ sein zu wollen. Doch der Zwang zur Originalität überfordert viele.

Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen. Nicht kreativ sein zu können, ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche. Aber nicht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, erscheint als ein absurder Wunsch. So wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch oder nicht normal zu sein. Wie könnte ein Individuum nicht wollen, was scheinbar natürlich in ihm angelegt ist: kreative Selbsttransformation?

Welche außergewöhnliche Relevanz der Kreativität in den westlichen Gesellschaften zugeschrieben wird, lässt sich zunächst am Aufstieg der „Creative class“ erkennen. Seit den siebziger Jahren hat die Zahl der Angehörigen der kreativen Berufe im weitesten Sinne – von den Medien bis zum Tourismus, vom Design bis zur Softwareentwicklung – deutlich zugenommen.

Studiert man intensiver den Strukturwandel der globalen Ökonomie, der Medien und ihrer digitalen Revolution, des Kunstmarkts, der Stadtentwicklung und den Wertewandel in den Mittelschichten in den letzten beiden Jahrzehnten, kristallisiert sich jedoch eine noch radikalere Einsicht heraus. Zentrale Segmente der westlichen Gegenwartsgesellschaften lassen sich mittlerweile von den Regeln eines Kreativitätsdispositivs, eines kreativ-ästhetischen Komplexes leiten. Das meint viel mehr als die Aussage, dass heutzutage „alle kreativ sein wollen“, und geht über die „Creative class“ hinaus.

So folgen die westlichen Großstädte zwischen Seattle und Amsterdam zunehmend dem Ideal einer Ästhetisierung. Im Kern setzen sie auf „Kultur“, auf die Produktion immer neuer urbaner Erfahrungen in Erlebnisstadtvierteln, spektakulärer Architektur und Kulturevents. Die digitalen Medien wiederum sind – weit entfernt vom passiven Coach potato – auf den kreativen Nutzer angewiesen. Der inszeniert sich in den sozialen Medien immer wieder selbst neu als ausdrucksstarke Persönlichkeit und sucht zugleich den Computer und das Netz nach immer neuen sinnlichen und emotionalen Reizen ab. Derweil werden die Medien nicht müde, anstelle von Politik- oder Wirtschaftslenkern Kreativstars zwischen Film und Musik, Design und Kunst als attraktive Vorbilder zu präsentieren.

Die Managementlehre wiederum hat das Leitmodell eines „Designmanagement“ entwickelt, das für jedes avancierte Unternehmen gelten soll. Das eigentliche Ziel der Produktion in der Gegenwartsökonomie soll dann nicht die bloße technische Innovation, sondern die ästhetische Kreation sein. Sinnliche und emotionale Erlebnisse werden durch die Nutzung von Waren und Räumen gestaltet und hervorgelockt. Der Apple-Konzern erscheint als Paradebeispiel einer Verwandlung von der technischen in die ästhetische Ökonomie.

Kreativitätsdispositiv meint, dass sich heute große Teile der sozialen Welt von einem Regime des ästhetisch Neuen anleiten lassen. Nun ist es charakteristisch für die moderne Gesellschaft, dass sie generell das Neue auf Kosten des Alten prämiert. Die moderne Orientierung am Neuen war lange gleichbedeutend mit einer Ausrichtung an politischen Revolutionen, an der technologischen Entwicklung und der Emanzipation des Individuums.

Aber das Regime des ästhetisch Neuen der Gegenwart ist anders aufgebaut. Hier geht es nicht um Fortschritt in Politik oder Technik, sondern um immer neue sinnliche und emotionale Reize um ihrer selbst willen, die hergestellt und genossen werden wollen. Kunstevents und urbane Erlebnisse gehören dazu, Designprodukte und Blogerzählungen, private „Quality time“ und touristische Erfahrungen.

Tritt man historisch einen Schritt zurück, dann war eine Ausrichtung der Gesellschaft am Zyklus des ästhetisch Neuen und am Ideal der Kreativität höchst unwahrscheinlich. Max Weber hat die moderne Gesellschaft mit einer scheinbar unauflösbaren Struktur der Rationalisierung gleichgesetzt. Die Moderne basiert auf Regeln der Berechenbarkeit und Effizienz, ob in der Wirtschaft, im Staat oder in der Wissenschaft. Der entsprechende Sozialcharakter strebt nach Leistung und Erfolg. Inmitten einer derart durchrationalisierten Moderne erschien die Kunst als wichtigster Gegenort: als ein Refugium für die Utopien des Schöpferischen. Der Künstler war ein Anti-Typ zum Bürger und Angestellten.

Gesucht wird Kreativität ohne Leistungszwang

Der Künstler und seine Subkultur der Boheme markierte hier – bewundert und verachtet – das Andere der Moderne. Und die Kunst war der einzige Ort, der seit der Entstehung der Genieästhetik Ende des 18. Jahrhunderts auf die Verfertigung des ästhetisch Neuen setzen konnte: auf Kunstwerke, die Originalität beanspruchen, die Regeln brechen und immer wieder Überraschungen bieten.

In der Gegenwart ist also etwas Bemerkenswertes geschehen. Das Künstlerische ist keine Gegenkultur oder Nische mehr. Rationalisierung und Ästhetisierung haben sich vielmehr miteinander verzahnt. Natürlich ist die Orientierung am Kreativen nicht unverändert geblieben. Wenn der Künstler zum Rollenmodell der Spätmoderne geworden ist, dann nicht mehr das leidende, verkannte Genie à la van Gogh, sondern der erfolgreiche Kunst- oder Kreativstar, das Modell Daniel Libeskind oder Yasmina Reza.

Der Produzent und das Publikum hängen dabei voneinander ab. Alle Individuen sind nun idealerweise kreative Produzenten mit dem Anspruch auf Originalität, im Beruf wie im Privatleben. Kreativität bezeichnet gewissermaßen ein postindustrielles Produktionsethos. Alles soll immer neu ästhetisch gestaltet werden.

Zugleich sind die Individuen immer auch Teil eines Publikums. Sie interessieren sich überall für das ästhetisch Neue – für Konsumobjekte, Medienereignisse und andere Individuen in ihren Versuchen der Selbstverwirklichung. Die spätmoderne Kreativitätsgesellschaft ist eine radikale Publikumsgesellschaft. Kreative Akte sind nämlich nie objektiv vorhanden. Sie hängen von der Aufmerksamkeit eines Publikums ab, das die Gunst des ästhetisch Interessanten ungleich verteilt.

Die Orientierung an Kreativität bezeichnet eine soziale Anforderung und einen verbreiteten subjektiven Wunsch zugleich. Wer sich nicht der Erwartung fügt, immer neue Originalitätsreize zu kreieren und zu verarbeiten, dem kann leicht berufliche und private Anerkennung versagt werden. Es gibt hier gewissermaßen eine Norm der Abweichung, so dass die Routine und der Konformismus alter Schule nicht mehr der Norm entsprechen.

Tragischer noch: Wer zu wenig kreativ ist, der verfehlt auch das eigene Idealbild. Der post-romantische Wunsch nach Selbstverwirklichung, das dem Künstlerideal folgt, bleibt unbefriedigt. Den eigenen Ansprüchen nach Selbstwachstum und ästhetischer Lebensgestaltung nicht zu genügen, kann ein Scheitern bedeuten, das schwerer wiegt, als einer Norm nicht zu entsprechen.

Sind Alternativen jenseits des Dispositivs der Kreativität möglich? Sind sie angesichts der inzwischen tief verankerten Hoffnung auf Selbstentfaltung und ästhetische Erfahrungen überhaupt denkbar? Zwei Gegenmodelle bieten möglicherweise Auswege. Statt auf den immerwährenden Zyklus des Neuen könnte man auf die Befriedigung in der Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen setzen. Man kann hier an das alte Handwerksethos denken, auf das Richard Sennett hinweist. Das ist nicht auf Innovation, sondern auf Meisterschaft ausgerichtet.

Und: statt immer mehr Publikumsrollen in die Gesellschaft einzubauen, fehlt es an kreativen Räumen, die sich dem Publikum entziehen und sich seiner begierigen Beobachtung verweigern. Eine Kreativität ohne Publikum könnte eine Kreativität ohne Leistungsanforderung sein. Die Frage lautet, welche neuen utopischen Potenziale  die Entzauberung des Kreativitätsmythos anzuregen vermag.

- Der Autor ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. In diesem Jahr ist im Suhrkamp Verlag sein Buch „Die Erfindung der Kreativität“ erschienen.

Andreas Reckwitz

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