Kultur: Der Mensch ist dem Menschen ein Schaf
„Zusammenarbeit“: Der Soziologe Richard Sennett preist die schönen Ideale der Gemeinschaft.
Was das soziale Zusammenleben betrifft, lassen sich die Leute (und auch die Soziologen) in zwei große Gruppen einteilen: Die einen achten vor allem auf das, was wie erwartet nicht funktioniert; die anderen auf das, was wider Erwarten doch funktioniert. Etwas soziologischer ausgedrückt: Die einen interessieren sich besonders für Konflikte, Krisen und Umbrüche, die anderen vor allem für das, was eine Gesellschaft stabilisiert und am Laufen hält.
Der 1943 als Sohn russischer Einwanderer in Chicago geborene Soziologe Richard Sennett gehört dem zweiten Typus an. In allen seinen Büchern, von „Die Tyrannei der Intimität“ (1974) bis zu „Der flexible Mensch“ (1998) und „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ (2002), um nur die bekanntesten zu nennen, geht er der Frage nach, wie die Menschen trotz allem, was sie einander antun, miteinander leben können.
Sein neuestes Werk geht direkt auf diese alte Frage ein. Es trägt den Titel „Zusammenarbeit“ und ist der zweite Band einer Trilogie, die er als „Homo-Faber-Projekt“ bezeichnet. Der erste Band handelt vom „Handwerk“ (2008), der dritte wird sich mit städtischer Architektur beschäftigen und damit das Thema von „Fleisch und Stein“ (1994) wieder aufnehmen.
„Zusammenarbeit“ diskutiert in seinen drei Hauptteilen, wie Kooperation politisch gestaltet, wie sie geschwächt und schließlich, wie sie gestärkt werden kann. Jeder dieser drei Teile besteht aus drei Unterkapiteln, in denen es zum Beispiel um „drei Facetten der Kooperation“ geht, um „das soziale Dreieck“, um „drei Bausteine des Rituals“ oder um „drei Arten, eine Reparatur durchzuführen“.
Das ewige Dreierlei ist eine Marotte, deren Einerlei Sennett nur durchbricht, wenn er auf die „vier Ratschläge“ im Buch eines anderen zu sprechen kommt: Ernest Satows Handbuch für die Kooperation unter Diplomaten. Auch Sennetts Werk hat Züge eines Handbuchs, doch werden sie durch seinen Plauderton und seine geschickte Verflechtung autobiografischen Erzählens mit soziologischer Beschreibung gemildert.
Sennetts Soziologie zeichnet sich durch ihre Nettigkeit aus. Diese Nettigkeit wird in der deutschen Ausgabe zusätzlich betont durch den Untertitel „Was unsere Gesellschaft zusammenhält“. Abgesehen von der seit Jahren in Deutschland grassierenden schlechten Angewohnheit, Sachbücher durch Wie-Weshalb-Warum-Titel auf das zu reduzieren, was man in Lektoraten für sogenannte Kernbotschaften hält – abgesehen von dieser Untugend entspricht der deutsche Untertitel nur unzureichend dem amerikanischen: „The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation“. Das ist in seiner Sachhaltigkeit dem deutschen Untertitel mit dem händchenhaltenden „unser“ vorzuziehen.
Das Titelbild der deutschen Ausgabe gibt die Gedankenwelt des amerikanischen Soziologen schon besser wieder. Es zeigt ein Ruderboot, fotografiert aus der Luft. Ein Buch, das auf Deutsch „Zusammenarbeit“ und im Original „Together“ heißt, so zu illustrieren, legt die Vorstellung nahe, wir säßen alle in einem Boot. Was nicht der Fall ist, denn in der krisenkapitalistischen Konkurrenzgesellschaft sind viele Boote unterwegs, und nicht wenige davon sind am Untergehen, ohne dass sich diejenigen in den anderen groß darum kümmern. Des Weiteren suggeriert die Illustration, es würden nicht nur alle in einem Boot sitzen, sondern auch alle das Gleiche tun: rudern. Was wiederum nicht der Fall ist, denn in der hoch arbeitsteiligen Wirtschaft tun die Leute extrem verschiedene Dinge und werden auch extrem verschieden dafür bezahlt.
Beides übersieht Sennett natürlich nicht. Doch seine Konzentration auf das Herstellen von Gemeinsamkeiten lässt ihn das nur aus einem Augenwinkel betrachten. Sennett rechnet sich ausdrücklich zur Linken, wenn auch nicht zu jener Parteilinken, der seine Eltern in ihrer kommunistischen Jugend anhingen. Was die Perspektive von oben auf das Boot (und das Leben) betrifft, so gibt sie Sennetts Haltung schlecht wieder. Sein Anliegen ist ja gerade das Aufbauen von unten. Dieses will er nicht mit einer Soziologie von oben belehren, sondern mit einer ermutigen, die sich auf Augenhöhe oder – dem sozialen Stallgeruch des Soziologen angemessener formuliert – auf Nasenhöhe mit den Menschen bewegt.
Soziologie ist die Wissenschaft vom Handeln der Menschen mit- und gegeneinander, auch dann, wenn sie „Strukturen“ untersucht. Sennett betont das Mit- und verwischt das Gegeneinander. Das nimmt seinen Analysen die geistige Schärfe. Außerdem gleitet die Ausdrucksweise mitunter hinab auf die Ebene der Kindlichkeit im Stil der „Sendung mit der Maus“: „Die Heimstatt der Ritter war die Burg.“
Sennetts Neigung zum Schwadronieren macht nicht einmal Halt vor dem Kitsch: „Auf der Suche nach einem Schaf, das er fressen kann, lässt sich der Wolf von den gelbgrünen Augen seiner Jagdgefährtin ablenken. Während das Paar sich, eingehüllt von den Düften der Nacht, auf der weichen Matratze des Waldbodens tummelt, vergessen sie für eine Weile, dass sie eigentlich darauf aus waren, zu töten.“ Des Weiteren wartet der Soziologe mit Erkenntnissen auf, für die man nur Zeitung lesen muss: „Solange die Dinge gut laufen, beanspruchen die Spitzenleute das Verdienst für sich, laufen sie dagegen schlecht, liegt der Fehler im System.“
Der Erfolg seiner Bücher hat sicher mit Passagen wie diesen zu tun. Doch auch mit der wirklich großartigen Fähigkeit, den Leserinnen und Lesern das Gefühl zu geben, nach dem einsamen Lesen sogleich mit dem gemeinsamen Handeln beginnen zu können. Hobbes hatte Unrecht: Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf. Bruno Preisendörfer
Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Hanser Berlin 2012. 432 Seiten, 24,90 €.
Bruno Preisendörfer
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