Späte Briefe Max Webers: Botschaften einer überflüssigen Luxus-Existenz
Max Weber kann als Wissenschaftler und Privatmann neu entdeckt werden – dank aktueller Bände in seiner Gesamtausgabe. Unter anderem erschienen jetzt die Briefe von 1918 bis 1920, den Jahren vor Webers frühem Tod an der Spanischen Grippe.
Max Weber war eine schwierige, eine zerrissene Persönlichkeit. Bis heute ist der Begründer der „verstehenden Soziologie“ und wirkungsmächtigste Vertreter der modernen Sozialwissenschaft überhaupt für Neuentdeckungen gut – in seinem Werk und über sein Werk hinaus. Die Selbstverständlichkeit, mit der seine Kategorien seit der amerikanischen Weber-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet und wieder und wieder diskutiert werden, jedenfalls steht in deutlichem Gegensatz zu der durchaus segmentierten Wahrnehmung zu Lebzeiten.
Die Mehrzahl der Weber’schen Schriften wurde erst posthum zugänglich. Allerdings entfaltete er seit den Kriegsjahren ab 1915 spürbar Wirkung durch Zeitungsartikel und vor allem unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs durch seine Vorträge wie „Politik als Beruf“ von 1918. Hinzu kommen seine Vorlesungen an der Universität München, deren Ruf er im Sommer 1919 folgte, nachdem er zuvor in Wien nach achtzehn Jahren lehramtlicher Abstinenz Professor „auf Probe“ gewesen war. In München trug Weber vor, was in seinem unvollendeten und erst in jüngster Zeit nach langen editorischen Wirrungen zuverlässig rekonstruierten Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ gültige Form gewinnen sollte.
Das ist eine der Leistungen des Mammutunternehmens der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG). Die im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erarbeitete MWG hat bereits zwei ihrer mittlerweile sechs Herausgeber überlebt, den langjährigen Nachlasshüter Johannes Winckelmann sowie Wolfgang J. Mommsen, der mit seinem kritischen Weber-Buch 1959 Furore machte. Seit 1984 sind von den geplanten 47 Bänden in drei „Abteilungen“ der MWG 33 erschienen, weitere 14 stehen noch aus. Zuletzt kamen zwei Bände aus Webers Münchner Zeit heraus: Die Vorlesungsmitschrift „Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ aus dem Wintersemester 1919/20 sowie die in zwei Halbbände geteilte Ausgabe der „Briefe 1918-1920“.
Was auf den ersten Blick nur durch die Gleichzeitigkeit der Abfassung zusammengehalten scheint, offenbart in Wahrheit einen tiefen Einblick in die Persönlichkeit Webers. Von sich selbst sprach er als einem „verstümmelten Menschen“. Und drei Tage nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. schrieb er ernüchtert: „Unser Einer ist wahrlich eine höchst überflüssige Luxus-Existenz geworden“ – um zugleich vom „wunderbar wilden Maskentanz dieses Lebens“ zu schwärmen.
Bereits 1923 erschien die Vorlesung unter dem verkürzten Titel „Wirtschaftsgeschichte“ in Buchform und wurde seither als Teil des Gesamtwerks geführt. Von Webers Hand sind nur Notizen überliefert, kein ausgearbeitetes Manuskript. Weber wird von Zeitgenossen als ebenso fordernder wie faszinierender Redner beschrieben, doch zu seinen studentischen Hörern sprach er nach eigener Aussage „im Schrift-Stil, also gehemmt, gequält“. Zwei Mitschriften haben sich erhalten, die in der jetzigen, von Wolfgang Schluchter (Heidelberg) besorgten Ausgabe den 1923er Text ergänzen und bestätigen.
Was unter dem eher spröden Stichwort der Wirtschaftsgeschichte daherkommt, ist nichts weniger als die Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus. Es geht Weber wie stets um die außerökonomischen Faktoren, die die ökonomische Entwicklung beeinflussen. Im Kern stellt seine Wirtschaftsgeschichte also die Geschichte der abendländischen Rationalisierung dar.
Und nun die Briefe. Sie sind die Sensation der MWG und, was Kommentierung und Erschließung betrifft, eine editorische Glanzleistung. Denn sie zeigen einen Max Weber, der stärker als je zuvor in zwei Personen zerfällt, eine öffentliche und eine private. 1909 verliebte sich der seit langem Verheiratete in die kapriziöse Else Jaffé, die Frau seines langjährigen Kollegen und Mitstreiters Edgar Jaffé. Webers Ehefrau Marianne, die er mit „Mädele“ ansprach und „Lebenskamerad“ nannte, hat es geduldet. Auch mit der zweiten Geliebten, der Pianistin Mina Tobler, dem „Tobelkind“, korrespondiert er ausführlich. Aus Webers Briefen tritt zugleich der weithin vernetzte Wissenschaftler hervor, aber auch der an der Schwelle zur großen Politik stehende Zeitgenosse. Beides verschränkt sich in diesen Jahren der Revolution und ihrer Niederschlagung, wovon Briefe an den Nationalökonomen Emil Lederer ebenso zeugen wie an seinen Heidelberger Schüler Georg Lukács. Dem Psychologen und Philosophen Karl Jaspers, der später von einer manisch-depressiven Veranlagung Webers schreiben wird, gilt der vorletzte dokumentierte Brief seines Lebens, sachlich wie stets, obgleich Weber bereits schwer krank ist.
In seinen Briefen erscheint Weber auch als scharfer und bisweilen arg voreingenommener Beobachter. Bereits am 24. November 1918, mitten im „tollen Mummenschanz“ der Revolution, urteilte er, „mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei“ – gedanklich den Bogen schlagend zu seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1895, in der er eine solche, von ihm entschieden befürwortete Rolle umrissen hatte. 1918 fährt Weber fort, das erst Entstehende bereits als geschehen vorwegnehmend: „Amerikas Weltherrschaft war so unabwendbar wie in der Antike die Roms nach dem 2. Punischen Krieg, hoffentlich bleibt es dabei, daß sie nicht mit Rußland geteilt wird.“ Drei Jahrzehnte später war eben diese Blockteilung der Welt Wirklichkeit geworden.
Die Briefe aus Webers letzten Lebensjahren interessieren, weil sie in die Zeit seiner höchsten Produktivität und Wirksamkeit fallen. In die tragisch kurz bemessene Zeit, da er zu einer wahrhaft öffentlichen Figur wird, geeignet, der auf den Trümmern des Kaiserreichs zurechtgezimmerten Republik Halt und Maß zu geben. An Friedrich Naumann schrieb er im Mai 1919, bevor er als Berater der deutschen Delegation zu den Versailler Friedensverhandlungen abreiste, über Ludendorff und die Spitzenmilitärs, „die Führer müssen ,den Kopf hinhalten’“, dieser Schritt sei „ganz unumgänglich, sein Unterlassen ein schweres, nie gut zu machendes Odium“. Aber genau so kam es; mit den bekannten Folgen für die Republik, die Weber im Übrigen nicht gewollt hat: „Ich bleibe Anhänger der streng parlamentarischen demokratischen Monarchie“, bekräftigte er noch im Mai 1919.
Seinen letzten Brief schrieb Weber am 30. Mai 1920 an den Verleger Paul Siebeck. Es ging um den ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“, der mit der „Protestantischen Ethik“ einsetzt. Zwei Wochen später erlag Max Weber 56-jährig der Spanischen Grippe. Die Zeitgenossen spürten einen Verlust, der in seinem ganzen Ausmaß erst den Späteren bewusst wurde. Die Bearbeitung der „Protestantischen Ethik“ innerhalb der MWG steht im Übrigen noch aus. Sie begründete Webers Weltruhm.
Max Weber: Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Hrsg. v. Wolfgang Schluchter. MWG Band III/6, 663 S., 269 €. – Briefe 1918–1920. Hrsg. v. Gerd Krumeich u. M. Rainer Lepsius. MWG Band II/10 in zwei Halbbänden, zus. 1218 S., 493 €. Alle im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 2011/12.
Bernhard Schulz
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