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Fitter, kreativer. Unternehmen schicken ihre Manager in Achtsamkeitsseminare. Hier Angehörige des chinesischen Shanxi Technology and Business College beim Yoga.
© imago/China Foto Press

Die Grenzen der Autonomie: "Wir leben unter dem permanenten Zwang zur Selbstoptimierung"

Der Soziologe Hartmut Rosa im Interview zur Frage nach dem guten Leben unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus.

Herr Rosa, Lebenskunstphilosophen erklären gerne, ein sinnvolles Leben sei auch ein gelingendes. Sie hingegen sprechen dem Begriff Sinn die Qualität ab, als positives Gegenbild der Entfremdung hinzureichen. Warum?

Sinn ist eine nachgeordnete Kategorie, er kommt dort ins Spiel, wo sich Resonanzen entfalten. Wer sich komplett niedergeschlagen fühlt, den wird kein Argument von der Sinnhaftigkeit einer Sache überzeugen können. In dem Moment, da wir von etwas berührt werden – zum Beispiel wenn wir ein großartiges Musikstück hören –, erscheint uns die Welt als sinnvoll. Umgekehrt ist es aber nicht so, dass uns die Sinnhaftigkeit einer Sache schon zu berühren vermag.

Wie verhält es sich mit Autonomie? Ist ein autonomes Leben ein gutes Leben?

Anders als Sinn ist Autonomie nicht nachgeordnet, sondern einseitig. Das Gewicht liegt hier auf der Haltung des Subjekts: Ich muss mich bestimmen, das Richtige für mich tun, mich entfalten. Natürlich ist Autonomie eine Grundbedingung. Wenn jemand daran gehindert wird, seine eigene Stimme, zum Beispiel seine sexuelle Begehrensform, zu entfalten, ist er auch nicht resonanzfähig. Selbstwirksamkeit ist das eine Ende der Resonanzbeziehung. Ich meine aber, dass Leben erst dort gelingt, wo wir von einem Anderen affiziert werden, wo wir die Fähigkeit ausbilden, eine andere Stimme zu hören. Das führt zuweilen gerade dazu, dass wir Autonomie verlieren. Beispiel Liebesbeziehung: Das vollständige Überwältigt-Werden ist doch gerade das, was Entfremdung beseitigt und Resonanzen erzeugt.

In Ihrem aktuellen Buch heißt es: „Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität.“ Inwiefern besteht in der Moderne ein Zuwenig an Resonanz und ein Zuviel an Entfremdung?

Ohne Frage gibt es heute ein gewaltiges Resonanzversprechen. Allenthalben wird damit geworben, dass es möglich sein soll, uns einen bestimmten Weltausschnitt anzuverwandeln; den Ort zu finden, an dem wir uns wohlfühlen, den Beruf, der zu uns passt, den Lebenspartner, der uns glücklich macht. In der Werbung werden diese Sehnsüchte fortlaufend aktualisiert. Nun ist es aber so, dass wir häufig bloß Resonanzversprechen erwerben, in der Hoffnung, sie irgendwann mal einzulösen. Die Leute arbeiten, um sich später das Häuschen im Grünen zu leisten; kaufen Güter, um sie in Reichweite zu haben und bei Gelegenheit zum Sprechen zu bringen. Die resonante Existenz wird auf später verschoben, nach dem Motto, wenn ich erst mal in Rente bin, dann fang ich an zu leben. Deshalb sage ich: Wir leben in permanenter Resonanzverheißung, aber der Alltag ist von einem Modus geprägt, der uns häufig in Entfremdung zwingt.

Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena.
Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena.
© Anne Günther/FSU Jena

Die Frage, ob ein Leben gelingt oder nicht, ist demnach keine individualpsychologische. Was sind die strukturellen Gründe, die eine Einlösung des Resonanzversprechens verhindern?

Natürlich spielen individuelle Momente eine Rolle. Auf der anderen Seite aber geht es um gesellschaftliche Verhältnisse. Die Grundstruktur moderner, kapitalistisch verfasster Gesellschaften beruht auf dem, was ich dynamische Stabilisierung nenne. Insbesondere im ökonomischen, aber auch im sozialen, kulturellen und technischen Bereich sind Beschleunigung, Wachstum und Innovationsverdichtung notwendig, um die Struktur selbst zu erhalten. Der systemimmanente Steigerungszwang nötigt die Subjekte zu einer permanenten Selbstoptimierung, zur unentwegten Akkumulation von ökonomischem, kulturellem, sozialem und körperlichem Kapital. Gleichzeitig bilden Konkurrenz und Wettbewerb den zentralen Verteilungsmodus für gesellschaftliche Positionen. Der Umstand, dass wir uns ständig verbessern müssen, bloß um unsere Position zu halten, korreliert mit dem Gefühl, gegen abwärtsfahrende Rolltreppen anzulaufen. Unsere Lebensform erzeugt eine Disposition zur Verdinglichung, die uns direkt in die Entfremdung führt.

Sie definieren Entfremdung mit Rahel Jaeggi als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Inwiefern verhindert die Prekarisierung der Existenz ein wirkliches In-Beziehung-Treten?

Indem es zu einer Distanzierung von den Dingen kommt, die man tut. Es wird zu einem Wagnis, sich wirklich auf etwas einzulassen, weil man nie weiß, wie lange man das noch macht. Eine Resonanzachse zu etablieren, ist ein zeitaufwendiges Geschehen. Resonanz tritt erst ein, wenn man sich verletzlich macht, wenn man sich zur Welt hin öffnet. Wenn ich aber erwarten muss, dass die Antwort eine repulsive ist, dann gerate ich gar nicht mehr in eine solche Haltung. Die Bereitschaft, sich zu öffnen, setzt Angstfreiheit, setzt eine Vertrauensbeziehung jenseits der Steigerungs- und Konkurrenzlogik voraus. Wenn ich nicht weiß, wie lange ich meinen Job oder meine Beziehung noch habe, gerate ich in einen Verdinglichungsmodus. Die Frage, die einen ständig begleitet, ist: Lohnt sich das für mich noch? Und kann ich mich darauf verlassen?

Die Kulturindustrie hat auf den Beschleunigungszwang längst reagiert. Begriffe wie Achtsamkeit, Entschleunigung und Gelassenheit haben in populären Lebenskunstbüchern Hochkonjunktur. Was ist von solchen Konzepten zu halten?

Ich glaube, dass dahinter die Sehnsucht nach einer anderen Form des In-der-Welt-Seins steht. Viele solcher Praktiken haben den Fokus jedoch abermals ausschließlich auf dem Subjekt. Die suggerieren dann Folgendes: Wenn du nur in die richtige Haltung gerätst, wenn du erst mal in Achtsamkeit kommst, dann kann dir die Welt nichts mehr anhaben. Das bewegt sich im Fahrwasser westlicher Autonomiefixierung. Der Beziehungscharakter, die Öffnung zum anderen hin, wird dabei häufig ausgeblendet. Meistens geht damit auch eine unpolitische Haltung einher.

Geht es bei Praktiken wie Achtsamkeitstraining, Meditation und Yoga also letztlich um Ressourcenmaximierung? Darum, sich gesünder und „resonanter“ zu machen, um Wettbewerbsvorteile zu akquirieren?

Natürlich geht es nicht jedem, der Yoga macht, um Reichweitenvergrößerung. Aber eine Tendenz gibt es auf jeden Fall: Sei fitter, kreativer, glücklicher. Das würde ich unter Ressourcenmaximierung verbuchen. Selbst bei jenen Programmen, die den Verdinglichungsmodus überschreiten wollen, wird häufig übersehen, dass Weltbeziehungen zwei Seiten haben und etwas sind, das Subjekte nicht aus sich selbst erzeugen. Solche Techniken werden ja längst auch von Unternehmen verwendet. Da werden die Mitarbeiter dann zum Achtsamkeitstraining geschickt, damit sie leistungsfähiger werden. Auf der einen Seite sollen wir kreativere Produzenten sein, auf der anderen Seite wird uns suggeriert, Resonanz sei etwas, das sich kaufen ließe. Es gibt eine Art Resonanzindustrie, die Resonanzsimulationen vertreibt und das Resonanzbegehren in ein Objektbegehren übersetzt.

Moderne Gesellschaften folgen dem Axiom: Je mehr ich habe, desto größer ist meine Lebensqualität. Auch die empirische Glücksforschung setzt bei den Ressourcen an. Warum geht die Gleichung nicht auf?

Natürlich spielen Ressourcen eine Rolle. Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern die basalen Grundgüter verweigert oder ihnen im Hinblick auf Anerkennungsbeziehungen einen Nicht-Ort zuweist, wie bei Harz IV, ist eine repulsive Gesellschaft, in der die Welt sich als stumm oder feindlich erweist. Trotzdem macht die Akkumulation von Ressourcen ein Leben noch nicht zu einem guten Leben. Leben gelingt dort, wo ich Zeit finde, mir einen Weltausschnitt anzuverwandeln, wo ich einerseits von außen berührt werde und andererseits von innen her Selbstwirksamkeit entfalte.

Kann es ein richtiges Leben im falschen geben?

Sind Gesellschaften, die strukturbedingt ihr Heute durch ihr Morgen überbieten müssen, notwendig entfremdet, kann es also kein richtiges Leben im falschen geben?

Natürlich kann man an der Subjektseite arbeiten. Aber Weltverhältnisse sind eben doch überindividuell, sie werden kollektiv institutionalisiert. Ich würde also daran festhalten, dass es kein vollständig gelingendes Leben in entfremdenden Strukturen gibt.

Dann ist die Revolution hin zu einer Postwachstumsgesellschaft also die Bedingung für ein gelingendes Weltverhältnis?

Um unser Weltverhältnis in Ordnung zu bringen und die gesellschaftlichen Krisen zu lösen, unter denen ich die Ökologie-, die Demokratie- und die Psychokrise besonders unterstreichen würde, brauchen wir eine Revolution, die viel grundlegender ist als jene, die die orthodoxe Linke anstrebt. Die notwendige Veränderung betrifft die Art des In-der-Welt-Seins im Ganzen. Die Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse genauso wie unser Selbstverständnis und unsere kulturelle Verfassung.

Wenn wir die Steigerungsimperative aber internalisiert haben, ist es mit ein bisschen Ideologiekritik doch nicht getan.

Absolut nicht. Ich will nicht sagen, wir müssen bloß anders denken, und schon ist das Problem gelöst. Die Konkurrenz- und Optimierungslogik hat die Institutionen genauso okkupiert wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Körper- und Zeitverhältnisse der Individuen. Deshalb brauchen wir einen groß angelegten Paradigmenwechsel; der lässt sich nicht durch ein paar Reformen herbeiführen. Meine Hoffnung ist aber, dass man einzelne Bausteine findet, die zu einem sukzessiven Wandel beitragen können. Auf der kognitiven Ebene kann es sinnvoll sein, die Sensibilität für die genannte Problematik auszuweiten. Auf der ökonomischen Ebene wäre das bedingungslose Grundeinkommen ein Anfang, weil es dem Wettbewerb wenigstens seine existenzielle Dimension nähme.

Hartmut Rosa (50), ist Professor für Soziologie an der Universität Jena. Zuletzt erschien von ihm: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. – Suhrkamp, 816 Seiten, 34,95 Euro. - Die Fragen stellte Christoph David Piorkowski.

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