Gibt es neue deutsche Schulen der Philosophie?: Auf der Suche nach Geist und gutem Leben
"Die Metaphysik ist putzmunter": Wir haben Philosophinnen und Philosophen gefragt, was sie umtreibt - und ob es neue deutsche Schulen der Philosophie gibt.
Stefan Gosepath lehrt Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er leitet die Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global“. Er hat zu Themen wie praktischer Vernunft und Normativität, zu Gerechtigkeit und Gleichheit, zu Menschenrechten und globaler Gerechtigkeit sowie Moral publiziert.
Es ist gelegentlich von älteren akademischen Kollegen mit einem herablassenden Bedauern gegenüber den nachrückenden Generationen bemerkt worden, dass die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Gründerjahre waren. Der Zusammenbruch einer Ideologie in Deutschland oder der Krieg als einschneidendes Ereignis auch bei den westlichen Siegermächten schafften die Gelegenheit zu einem Neuanfang mit Grundfragen nach der richtigen Weise zu philosophieren.
So konnten die heute als große Philosophieprofessoren in Deutschland, England und USA Angesehenen in den 50er Jahren anscheinend unbeschwerter neue Schulen und Denkströmungen gründen. Ein dominanter Eindruck der nachfolgenden Generationen von Philosoph*innen dürfte sein, dass sie immer schon einer dieser existierenden philosophischen Schulen zugeordnet sein müssen, um akademisch zu reüssieren.
Das bringt gewiss einen nicht zu unterschätzenden Vorteil enormer Verwissenschaftlichung, Verschulung und Spezialisierung mit sich. Gleichzeitig führt(e) das aber bedauerlicherweise dazu, dass das allgemein verbreitete Interesse an Antworten auf philosophische Fragen von den Produkten, die die akademische Philosophie heute liefert, nicht befriedigt wird.
Statt Schulen zu pflegen, wäre es besser, die akademische Philosophie würde wieder stärker versuchen, lesbare, verständliche und angemessene Antworten auf heute interessierende philosophische Fragen zu geben, wie sie sich uns allen unweigerlich stellen. Eine solche Frage ist die nach der Universalität der Menschenrechte – gerade in Zeiten rivalisierender Wertesysteme, die die Welt in Atem halten; eine andere die nach unserer Verantwortung angesichts weltweiter Ungerechtigkeiten, deren Folgen wir in Form von Flüchtlingen, Hungersnöten, Klimawandel hautnah erfahren.
Dazu entwickeln sich derzeit auch in Deutschland erhellende, international sichtbare Debatten, an der etwa Rainer Forst, Axel Honneth und Rahel Jaeggi teilnehmen. Dabei kann man gut von verschiedenen akademischen Schulen und Denker*innen lernen und somit eine originelle, auf unsere Situation bezogene Position beziehen. So sollte sich Philosophie wieder in die Öffentlichkeit trauen.
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“, Literaturkritikerin in der „Buchzeit“ (3Sat) und Mitglied der Programmleitung der phil.cologne. Im März erschien ihr Buch: „Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld“.
Lange Zeit wurde die Frage des guten Lebens aus der Philosophie ausgeklammert. Wer das gute Leben definiere, respektive Kriterien für ein solches formuliere, bevormunde die Menschen, lautete die – keineswegs ganz unbegründete – Befürchtung. So hat etwa Jürgen Habermas für eine strikte Trennung von Moral und Ethik argumentiert: Lediglich Erstere, das heißt die Beschäftigung mit allgemeingültigen Handlungsnormen, darf Gegenstand der Philosophie sein. Die ethische Frage des guten Lebens ist reine Privatsache.
Doch in jüngster Zeit vollzieht sich eine Kehrtwende. Entfremdung, Orientierungslosigkeit und zunehmende psychische Erkrankungen – Phänomene, die in unmittelbarem Zusammenhang mit gegenwärtigen, spätkapitalistischen Lebensformen stehen – rücken diese Frage wieder in den Fokus. Zudem lassen sich Ethik und Moral auch angesichts der technischen Entwicklungen überhaupt nicht klar trennen. Pränatale Diagnostik, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe: Die Bioethik wirft notgedrungen moralische Fragen auf.
2013 erschien Rahel Jaeggis Buch „Kritik von Lebensformen“, das die vermeintliche Grenze von Ethik und Moral mutig überschreitet. Und soeben wurde Hartmut Rosas Werk „Resonanz“ herausgebracht, das sich ausdrücklich als ein Beitrag zur Philosophie des guten Lebens versteht. Diese zwei Bücher gehören für mich zu den wichtigsten der letzten Jahre.
"Die Metaphysik ist putzmunter": Dominik Perler und Hans Joas
Dominik Perler ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Er arbeitet zu Problemen der Metaphysik und Erkenntnistheorie. 2006 erhielt er den Leibniz-Preis.
Gibt es neue Schulen in der Philosophie? Zum Glück nicht. Heute muss sich niemand zu einer Schule bekennen und gegnerische Schulen bekämpfen. Man muss auch keinem Meisterdenker nacheifern. Der Geniekult ist weitgehend verschwunden. Akademische Philosophie ist zu einem Gemeinschaftsunternehmen geworden, und das macht sie so attraktiv. Wir arbeiten gemeinsam an Problemen, diskutieren Lösungsvorschläge und verbessern sie. Das ist natürlich nicht so spektakulär wie der große Systementwurf, der alle Probleme auf einen Schlag löst. Aber ehrlicher und produktiver.
Worüber wird diskutiert? Metaphysische Fragen stehen wieder im Vordergrund. Welche Struktur hat die Welt? Welche Dinge gibt es in der Welt? Und warum gibt es überhaupt Dinge? Diese uralten Probleme werden wieder erörtert. Niemand spricht mehr von einer „sprachanalytischen Überwindung“ der Metaphysik oder von einem „postmetaphysischen Zeitalter“. Ganz im Gegenteil, die Metaphysik ist putzmunter.
Zudem gibt es eine Wiederentdeckung klassischer Autoren. Denker wie Aristoteles oder Spinoza werden wieder intensiv gelesen, und zwar nicht als bloße Säulenheilige. Sie werden systematisch ernst genommen. Bei ihnen finden sich nämlich ausgeklügelte Theorien über die Struktur der Welt – Theorien, die wir heute weiterentwickeln können.
Und die Philosophie setzt sich immer mehr mit den empirischen Fächern auseinander. Wir reden mit Physikern oder Biologinnen, wenn wir metaphysische Theorien entwickeln, lassen uns von ihnen anregen und korrigieren. Auch hier gilt: Nur wenn wir gemeinsam an Problemen arbeiten, kommen wir voran.
Hans Joas, Soziologe und Sozialphilosoph, lehrt an der Humboldt-Universität und der University of Chicago. Letztes Buch: „Sind die Menschenrechte westlich?“ Laufendes Buchprojekt: „Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung“.
Die Philosophie ist kein akademisches Fach wie jedes andere. Ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis nach rangiert sie oberhalb der Einzelwissenschaften. Wenn sie diesen schon nicht den Weg weisen kann, beanspruchen viele ihrer Vertreter doch eine Zuständigkeit für die Klärung von Begriffen und grundsätzlicher methodischer Fragen. In der tatsächlichen Forschung wird ihr Beitrag aber oft nicht als hilfreich, ihr Anspruch sogar als anmaßend empfunden. Manche Philosophen bemühen sich auch darum, aus der Philosophie endlich selbst eine „strenge Wissenschaft“ zu machen. Sie enden aber meist eher bei einer äußerlichen Imitation als bei tatsächlichem Fortschritt.
Mich haben schon immer diejenigen philosophischen Schulen am meisten angezogen, die sich in echtem Dialog mit den Wissenschaften entwickelt haben. Die philosophische Schule des amerikanischen Pragmatismus, von praktizierenden Naturwissenschaftlern begründet (Peirce, James), und die große deutsche Tradition von Historismus und Hermeneutik (Dilthey, Troeltsch) haben mich am meisten inspiriert.
Heute sind für mich nicht neue philosophische Schulen in Sicht, wohl aber großartige wissenschaftliche Entwicklungen mit enormem philosophischem Potenzial: die Forschungen zu den biologischen Grundlagen der menschlichen Kommunikation (M. Donald, M. Tomasello) einerseits, zu einer Globalgeschichte der Religion (R. Bellah) und Macht (M. Mann) andererseits. Durch diese wird es möglich, über ein euro- (oder okzidentalo-) zentrisches Weltbild und die gewaltige Synthese hinauszugehen, die einst Max Weber vorgelegt und die die Philosophen von Jaspers bis Adorno zutiefst geprägt hat.
"Gedanken und Gefühle anderer erfassen": Michael Pauen und Sybille Krämer
Sybille Krämer ist Professorin für theoretische Philosophie an der Freien Universität. Zuletzt erschien von ihr „Media, Messenger, Transmission. An Approach to Media Philosophy“ (Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität).
Der Geist wohnt im Kopf von Personen, oder? Nicht nur, wenn Neurowissenschaftler Geist durch Gehirnanalyse erklären wollen, auch wenn Philosophen – und das schon seit Platon – Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung bestimmen, herrscht die Vorstellung: „Geist – das haben Individuen.“ Auch Kant hat die Aufklärung mit dem Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, verbunden. Wo wir auch hinschauen: In der Philosophie regiert ein epistemologischer Individualismus. Der Geist steckt unter der Kopfhaut und ein Wissen erwerben wir im Do-it-yourself-Verfahren – indem wir wahrnehmen, erinnern und eigenhändig schlussfolgern.
Es ist nun faszinierend zu sehen, wie in der Philosophie schrittweise der methodische Individualismus zurückgedrängt wird. Mehr als 90 Prozent unseres Wissens haben wir nicht eigenhändig überprüft, sondern verlassen uns auf die Worte und Schriften anderer. Den Bodensatz unseres Wissens bildet dieses Vertrauen in Andere. So geht dem Erkennen von Gegenständen das Anerkennen von Personen, deren Aussagen wir vertrauen, voraus.
Und nicht nur das. Es gibt noch eine andere Frontlinie der Unterhöhlung epistemischer Autonomie. Im Denken und Erkennen interagieren wir auch mit symbolischen Systemen, bildlichen Darstellungen und technischen Apparaten. Es führt kein Weg daran vorbei: Anders als der erkenntnistheoretische Individualismus es suggeriert, ist das Erkennen ein sozialer, ein kooperativer Prozess des Zusammenwirkens zwischen Menschen, Medien und Apparaten.
Was nun hat das mit deutschen Schulen der Philosophie zu tun? Ziemlich wenig: Die „Soziale Epistemologie“ (Erkenntnistheorie) und die „Idee vom erweiterten Geist“ sind keine Impulse, die von deutschen Philosophen ausgehen. Doch in der Perspektive dieser Einsicht fällt neues Licht auf ältere deutsche Philosophien. Denn Leibniz, Wittgenstein und Cassirer werden zu Vordenkern eben der Einsicht, dass das Subjekt des Denkens kein autonomes Individuum ist.
Bleibt damit die Aufklärung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, auf der Strecke? Nein, denn selbstständig im Denken zu sein, heißt gerade, dass unsere epistemische Abhängigkeit kein blinder Fleck bleibt, sondern bewusst reflektiert wird. Es gilt unser Erkennen als eine Form sozialen Erkennens zu begreifen.
Michael Pauen ist Professor für die Philosophie des Geistes an der Humboldt-Universität. Im April erscheint sein neues Buch: „Die Natur des Geistes“.
Philosophische Schulen haben im Deutschland der Nachkriegszeit eine unselige Rolle gespielt. Jede Schule hatte ihre eigenen ewigen Wahrheiten, die Auffassungen des Schulhaupts waren mehr oder minder sakrosankt und zwischen den Schulen gab es kaum Austausch. Doch die Vernunft ist nicht teilbar: Entweder eine Behauptung stimmt, dann sollten alle sie akzeptieren. Oder sie ist falsch, dann sollten alle sie aufgeben.
Insofern ist es gar nicht schlecht, dass die Schulen massiv an Bedeutung verloren haben. Gleichzeitig zeichnet sich ein gewisser Grundkonsens ab, was die philosophischen Methoden und Voraussetzungen angeht. Das macht es leichter, sich mit unterschiedlichen Positionen auseinanderzusetzen: sie zu übernehmen oder sie zu kritisieren.
In meinem Fachgebiet, der Philosophie des Geistes, kommen neuere Entwicklungen immer häufiger in der Zusammenarbeit mit Hirnforschern oder Psychologen in Gang. Eine der überraschendsten Entwicklungen der letzten Zeit betrifft die enge Verbindung zwischen körperlichen Prozessen auf der einen Seite und unserem Denken und Fühlen auf der anderen: Selbst unser Sprachverstehen scheint von körperlichen Fähigkeiten zu profitieren.
Ich selbst habe mich in der letzten Zeit viel mit der Frage beschäftigt, ob es für die Wissenschaften eine prinzipielle Grenze bei der Erforschung von Gedanken und Gefühlen anderer Menschen gibt. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Grenze selbstverständlich: Meine Schmerzen spüre nur ich! Erst wenn man sich näher mit der Sache beschäftigt, sieht man, dass wir vielleicht doch ganz gute Chancen haben, die Gedanken und Gefühle anderer wissenschaftlich genau zu erfassen. Dazu benötigen wir nicht das Gegeneinander von Schulen, sondern eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Philosophen. Und vielleicht verstehen wir dann irgendwann einmal, wie geistige Prozesse durch die Aktivität von Nervenzellen entstehen.