Soziologie: Drum schwinge mit, wem Schwung gegeben
Wider die Entfremdung: Hartmut Rosa entwirft eine Soziologie der Resonanzbeziehungen.
Wer sich noch an den ersten Band von Peter Sloterdijks „Sphären“-Trilogie erinnert, konnte sich in den letzten Jahren gelegentlich wundern, wie weit es den Philosophen von seinem vielleicht größten Einfall weggetrieben hat. In „Blasen“ schickte er die heroischen Einsamkeitsphantasmen der Moderne in die Rumpelkammer der Geschichte. Er entwarf den Menschen nach einem konträren Modell: als ein Resonanzwesen, das gerade nicht alleine existiert, sondern von Anfang an mindestens zu zweit. Seine Existenz spürt es nur, weil es bereits einen Anderen gibt. Der selig in der Raumkapsel des mütterlichen Uterus treibende Embryo, der akustische Signale einer anderen Existenz wahrnimmt, während sich die eigene ausbildet, wurde durch den „Blasen“-Band zu einem wirkmächtigen Bild.
Dieses Bild greift der Soziologe Hartmut Rosa nun auf und ergänzt seine Theorie der Beschleunigung mit einem Konzept, das Resonanz als „Lösung“ der Probleme anbietet, die durch die veränderten Zeitstrukturen der Moderne entstanden sind.
Dass wir mehr Dinge in immer kürzerer Zeit erledigen und dadurch unter Druck geraten, gehört zur „Eskalationstendenz“ moderner Gesellschaften. Für sie ist charakteristisch, dass sie sich nur „dynamisch stabilisieren“ können, wie der in Erfurt und Jena lehrende Soziologe analysiert, der in Jena ein Forschungsprojekt zur „Postwachstumsgesellschaft“ gegründet hat. Die Steigerung wird zum Zwang und hat sich längst von der ökonomischen Sphäre in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgebreitet. Optimierung, Rationalisierung und Effizienz durchdringen den Alltag. Der Kapitalismus kennt kein Außerhalb, erst recht nicht in seiner globalen Variante. Max Weber bezeichnete ihn deshalb als die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“.
Wo es kein Wachstum gibt, geht es bergab. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern für jedes einzelne Subjekt. Selbst wer nur den Status quo erhalten möchte, muss sich verausgaben. Was das bedeutet, illustriert Hartmut Rosa mit dem Bild einer nach unten gleitenden Rolltreppe, auf der man unablässig nach oben laufen muss, um den relativen Standpunkt zu halten.
Soziologie des guten Lebens
Hartmut Rosa will eine „Soziologie des guten Lebens“ initiieren. Das ist ein begrüßenswertes Unterfangen. Allerdings muss es erhebliche Klippen meistern. Die Absturzgefahr Richtung Ratgeberliteratur und süffiger Lebenshilfe-Philosophie ist ebenso groß wie die Gefahr, aus lauter Vorsicht einen Mittelweg zu gehen, auf dem zwar nichts Schlimmes passiert, sich aber auch nichts Aufregendes ereignet. Anders als Peter Sloterdijk macht Hartmut Rosa nicht viel Wind. Er argumentiert geduldig und systematisch. Manchmal führt das zu Wiederholungen und etwas umständlichen Formulierungen. Doch insgesamt ist sein Entwurf bezwingend konsistent.
Als physikalisch-musikalische Metapher für das, was sich zwischen zwei Objekten tut, wenn sie sich gegenseitig in Schwingung versetzen, hat Resonanz den enormen Vorteil, sich als Beziehungsmodus beschreiben zu lassen. Sie ist keine Emotion, auch dann nicht, wenn man von zwei Subjekten spricht oder von einem Subjekt und einem Objekt. Rosa konzipiert sie als eine „Antwort“, die ein Weltausschnitt von sich aus gibt. Wer sich in einem resonanten Umfeld bewegt, dem scheint die Welt entgegenzukommen. Sie kann sich aber auch komplett verschließen, dann bleibt die Verbindung stumm. Depression und Burnout lassen sich nach diesem Modell als Verstummen aller Resonanzen beschreiben. Die Welt wirkt grau und leer, sie „antwortet“ nicht.
Während es in der Psychoanalyse genügt, den Patienten umzustimmen, und die Ratgeberliteratur davon lebt, dem Einzelnen Erleichterung anzubieten, muss der Soziologe die ganze Gesellschaft in den Blick nehmen. Hartmut Rosa kommt zu einer ambivalenten Diagnose der spätmodernen Verhältnisse. Einerseits ist die Steigerungslogik des entfesselten Kapitalismus ein Frontalangriff auf Resonanzphänomene, die Angstfreiheit und genügend Zeit voraussetzen sowie Räume und Institutionen, die Begegnungen erleichtern. In dieser Hinsicht scheint alles auf eine „Resonanzkatastrophe“ zuzulaufen. Sie kündigt sich in der ökologischen und der demokratischen Krise ebenso an wie in der „Psychokrise“, als die man die Zunahme psychischer Krankheiten mit Recht bezeichnen kann. Andererseits aber hat die Moderne durch ihre technischen Möglichkeiten erst die Energien freigesetzt, aus der sich jene historisch beispiellose „Resonanzsensibilität“ entwickeln konnte, deren zwanglose Ausschöpfung sich als Verheißung imaginieren lässt. Dass sich ganze Industrien darauf spezialisiert haben, den Bedarf an Resonanz zu decken, bedeutet nicht, dass damit das Konzept diskreditiert wäre.
Resonanz als Gegenbegriff von Entfremdung
Wer je einen Menschen beim zärtlichen Streicheln seines Smartphones beobachtet hat, wie er ihm mit einem Lächeln auf den Lippen Resonanz zu entlocken versucht, der ahnt, dass es sich dabei um einen Stoff von gewaltigem Suchtpotential handelt. Es gibt gute Gründe, die Sehnsucht nach Antwort für eine anthropologische Konstante zu halten, die in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Gestalt annimmt. Will man Resonanz als Gegenbegriff von Entfremdung etablieren, wie Rosa das anstrebt, muss man Mittel und Wege finden, nicht verdinglichte Resonanzformen aufzuspüren. In der „Unverfügbarkeit“ von Resonanz, im Widerspruchsgeist und in der Eigenschwingung, die vonnöten ist, um sich mit einem anderen in einer gemeinsamen Schwingung einzupendeln, konstruiert er einleuchtende Momente des Überschusses und setzt sie zu ähnlichen Konzepten der Theorie-Geschichte in Beziehung: zu Benjamins „Aura“ beispielsweise, Max Webers „Charisma“, Adornos „Mimesis“, Herbert Marcuses libidinösen Umdeutungen von Orpheus und Narziss, zu Erich Fromm und Ernst Bloch oder zu Jürgen Habermas’ Modell des kommunikativen Handelns, dem er allerdings in Hinsicht auf ästhetische, erotische und leibliche Qualitäten ein Armutszeugnis ausstellt.
Die größte Klippe für Rosas Modell ist die Konstruktion des Zusammenspiels von Subjekt und Welt. Wenn das Individuum in seinem Solipsismus gefangen bleibt, sind seine Resonanzerlebnisse illusionär, nichts als ein hohles Echo der eigenen Einsamkeit. Manchmal fürchtet man, die Soziologie des guten Lebens könnte an dieser philosophischen Aufgabe scheitern. Doch mit der Phänomenologie eines Hermann Schmitz und den darauf aufbauenden Arbeiten von Thomas Fuchs sowie mit den zahlreichen Forschungsergebnissen, die es mittlerweile in verschiedenen Disziplinen zu den Phänomenen von Stimmung und Atmosphäre gibt, erkundet Hartmut Rosa dieses Zusammenspiel mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit.
Der radikalen Verdinglichung Einhalt gebieten
Wie vielfältig sich Weltbeziehungen denken lassen, fächert er eher am Rande auf. Dennoch wird klar, wie schwierig es für spätmoderne Subjekte ist, der „radikalen Verdinglichung der nichtmenschlichen Welt“ Einhalt zu gebieten. Unter den Konsumimperativen des schnellen Warenumschlags sind die Dinge zu leblosen Objekten geworden. Man ersetzt sie, noch bevor man sie sich anverwandelt hat. Dass man die Dingwelt, ohne zum Esoteriker zu werden, auch anders konzipieren kann, haben Maurice Merleau-Ponty und Gaston Bachelard bereits Mitte des letzten Jahrhunderts gezeigt. Auch Bruno Latours neuere Idee eines „Parlaments der Dinge“ leuchtet unmittelbar ein, wenn man sie als ökologisches Gegenprogramm zur kapitalistischen Entzauberung versteht.
In den letzten Jahren hat sich eine merkwürdig rüde Apokalypsen-Seligkeit etabliert. Wer ernst genommen werden möchte, kann eine Vielzahl möglicher Katastrophen herunterbeten, die höchstens durch hochgerüstete Technik zu verhindern wären. Mehr denn je gilt Negativität als Ausweis intellektueller Satisfaktionsfähigkeit und Optimismus als Weichspüler fürs Gehirn. Dass das Schreckensbild der Gegenwart auch eine Folge männlich dominierter Wertesysteme ist, lässt sich kaum bestreiten, auch wenn es nicht unbedingt Männer sein müssen, die sie vertreten.
Rosas Umsturzphantasien rufen nicht zu Barrikadenkämpfen auf. Revolutionäre Muskelkraft hat ausgedient. Es sind eher tastende Versuche einer „antikapitalistischen“ Haltung, die mit konkreten Vorschlägen aufwarten kann. Die Idee, Resonanz könnte ein Mittel gegen den enormen Energieaufwand zwanghafter Steigerung und Dynamisierung sein, führt zu der klaren politischen Forderung, die Wirtschaft zu demokratisieren. Das heißt nichts anderes, als ihre Institutionen politisch so zu regulieren, dass sie an die „Maßstäbe gelingenden Lebens“ zurückgebunden werden. Zentrale Infrastrukturen wie Verkehrs- und Energieversorgung sowie Banken und Gesundheitswesen sollten der „kapitalistischen Verwertungslogik“ entzogen werden, sie gehören in die öffentliche Hand.
Das bedingungslose Grundeinkommen könnte der entscheidende Schritt zur „Pazifizierung der Existenz“ sein, von der nicht nur die Kritische Theorie seit Marx träumte, sondern die auch Ökonomen von Adam Smith über John Maynard Keynes bis zu Ludwig Erhard versprachen. Dass ein solches Grundeinkommen die „existentielle Angst“ vor dem „sozialen Tod“ beschwichtigen könnte, ist evident. Es erweitert die Resonanzräume gerade auch für jene, die ihre „Weltreichweite“ nicht ständig vergrößern können und in der Furcht leben, abgehängt zu werden. Wie Thomas Piketty schlägt auch Rosa eine globale Erbschaftssteuer zur Finanzierung vor. „Eine bessere Welt ist möglich“, traut er sich am Ende des Buches zu proklamieren. Dazu gehört womöglich mehr Mut als zur Forderung politischer Reformen.
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 815 Seiten, 36 €.
Meike Feßmann
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