Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit: Wie Vorurteile in Gewalt umschlagen
Der Historiker Wolfgang Benz spricht im Interview über die gesellschaftliche Funktion von Ausgrenzung, gängige Feindbilder und hartnäckige Ressentiments.
Herr Benz, Ihr neues Werk „Vom Vorurteil zur Gewalt“ bildet die Essenz Ihrer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Ressentiments und Feindbildern. Welche zentralen Ergebnisse der Ressentimentforschung führt das Buch zusammen?
Das wichtigste, aber auch am schwersten zu vermittelnde Ergebnis scheint mir zu sein, dass es eben nicht die Opfer von Ressentiments sind, die diese hervorrufen. Nicht die Juden sind schuld daran, dass man sie nicht mag, nicht die als „Zigeuner“ titulierten Personen sind diebisch und habituell kriminell, nicht die Muslime sind integrationsunwillig.
Es ist vielmehr die Mehrheitsgesellschaft, die beliebigen Minderheiten Eigenschaften zuschreibt, wegen derer sie anschließend missachtet werden. Das ist die entscheidende Erkenntnis meines Forschens: Der Ausgegrenzte trägt an seiner Ausgrenzung keine Schuld. Es ist die Mehrheitsgesellschaft, die die Ausgegrenzten als solche nötig hat.
Was ist denn die sozialpsychologische Funktion von Ressentiments und Feindbildern?
Das Ressentiment, das sich zum Feindbild steigert, stärkt das eigene Selbstbewusstsein. Das Böse wird auf eine vermeintlich feindliche Minderheit delegiert. Damit bestätigt man sich selbst, auf der richtigen Seite zu stehen.
[Lesen Sie hier, warum Verschwörungsideologen systematisch irren und warum Antisemitismus oft ihr Weltbild bestimmt.]
Richten Vorurteile und Ressentiments gegenüber Personengruppen nicht immer schon – zumindest symbolische – Gewalt an?
Ja, Gewalt beginnt nicht beim Pogrom. Soziale Ausgrenzung etwa stellt definitiv einen Akt der Gewaltausübung dar. Wenn Juden im christlichen Mittelalter von bestimmten Berufen und vom Landerwerb ausgeschlossen sind, nicht in Zünfte und Innungen dürfen, wenn sie an den Rändern der Städte ghettoisiert werden, wird ihnen bereits massive Gewalt zugefügt.
Welche historischen, sozialen und politischen Situationen führen in der Regel dazu, dass Vorurteile und Ressentiments in physische (Massen-)Gewalt umschlagen?
Ich glaube nicht, dass es einer bestimmten Konstellation bedarf. Eine Gesellschaft muss sich keineswegs in einer Krisensituation befinden, damit die Menschen „Zuflucht“ in Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten suchen. Nehmen Sie das Beispiel Sarrazin: Als er mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ seine rassistischen Thesen unter die Leute brachte, gab es im Grunde keinen Leidensdruck.
Die Menschen, die ihm zugejubelt haben, waren in keiner Weise von Muslimen bedroht. Es waren gut situierte Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, die aus nicht begründeter Überfremdungsangst der irrigen These auf den Leim gegangen sind, „die Muslime“ würden Europa unterwandern.
Sehen Sie einen direkten Zusammenhang zwischen den Thesen eines Herrn Sarrazin oder auch der Politik der AfD und den Attentaten in Halle und Hanau?
Diesen Zusammenhang sehe ich durchaus. Die AfD ist natürlich nicht alleine schuld. Aber das Klima, das entsteht, wenn Demagogen kulturellen Rassismus predigen, und dieser, wie bei Pegida, zum politischen Programm erhoben wird, schafft auch den Nährboden für sogenannte Einzeltäter, die dann meinen, gegen eine vermeintliche Überfremdung tätig werden und Gewalt ausüben zu müssen.
Bilden Konstruktionen des „Anderen“ eine notwendige Negativfolie für die positive Bestimmung der „eigenen“ kollektiven Identität? Ist das „die“ also nötig um das „wir“ zu definieren?
Ja, ganz offensichtlich ist das notwendig. Das erleben wir sogar noch in den christlichen Konfessionsgegensätzen, und das bis in die Gegenwart hinein. Dass sich etwa Katholiken in Abgrenzung zu den als theologisch und sozial vermeintlich minderwertigen Protestanten als überlegenes Kollektiv definieren, ist auch noch im aufgeklärten Deutschland der Fall.
In Ihrem Buch heißt es, Ressentiments seien in zahlreichen Kulturen „der Kitt nationalen, religiösen und zivilisatorischen Selbstbewusstseins“. Sind Feindbilder eine anthropologische Konstante, kommen also immer und überall vor?
Eine Kultur, die ohne Ressentiments auskommt, welche wiederum in Gewalt münden, ist mir als Historiker leider noch nicht begegnet. Ein Kollektiv, das in seiner Geschichte nicht gegen zu Feinden erklärte Andere marschiert wäre, ist mir jedenfalls nicht bekannt. Dass das empirisch nicht vorkommt, heißt aber noch nicht, dass es nicht möglich wäre; Gruppen also theoretisch auch ohne Feindbilder auskommen könnten.
Sie schreiben, der Antisemitismus habe eine „paradigmatische Funktion“ für die Erklärung des Zusammenhangs von Vorurteilen und Gewalt. Wie meinen Sie das genau?
Die Judenfeindschaft ist das langlebigste soziale, kulturelle und politische Ressentiment der Geschichte. Aufgrund meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus habe ich den Schluss gezogen, dieses älteste aller Gewalt produzierenden Vorurteile für die Erklärung allgemeiner Ausgrenzungsmechanismen und die vergleichende Ressentimentforschung fruchtbar zu machen.
Der Vergleich zwischen Antisemitismus und der Aggression gegen andere Minderheiten, stellt einen notwendigen Ansatz dar, um zu verstehen, wie Menschen Feindbilder produzieren und warum sie diese anscheinend nötig haben.
Sie werden in diesem Zusammenhang von einigen Leuten bis heute dafür kritisiert, dass Sie Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit gleichsetzen würden. Setzen Sie diese denn wortwörtlich gleich – oder vergleichen sie die beiden Ressentiments bloß im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
Letzteres. Ich setze weder Muslime und Juden, noch Muslimfeindschaft und Judenfeindschaft gleich, das wäre ja vollkommen blödsinnig. Die Leute, die mir unter anderem vorwerfen, ich würde mit diesem Vergleich die Singularität des Holocaust leugnen, haben meine Texte entweder nicht gelesen oder sie sind des Lesens nicht mächtig.
Was ich untersuche, ist die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft auf unterschiedliche Minderheiten. Wenn ich nachweisen kann, dass gegen Muslime im 21. Jahrhundert die gleichen Marginalisierungs- und Ausgrenzungspraktiken angewendet werden, wie im 19. und 20. Jahrhundert gegen Juden, stellt der Vergleich einen notwendigen Erkenntnisschritt dar.
Was sind denn die wesentlichen Gemeinsamkeiten von Judenfeindschaft und Feindschaft gegenüber Muslimen?
Zunächst einmal das Religions-Bashing. Ende des 18. Jahrhunderts wurden „die Juden“ gemeinhin als Feinde der Christen bezeichnet, weil ihre Religion ihnen angeblich allerlei Missetaten gegen die Christenheit erlauben würde. Der vermeintlich schlechte Charakter der Juden wurde aus ihrer angeblich verderbten Religion erklärt.
Wenn rechte Demagogen heute behaupten, der Koran gebiete Muslimen Gewalt gegen Nicht-Muslime und dass jene sich nach islamsicher Lehre schuldig machen würden, wenn sie keine Gewalt gegen Christen verübten, ist das eine eindeutige Parallele. Was damals Talmud-Schelte war, lebt heute als Koran-Schelte fort.
Eine andere Parallele ist das Moment der Überfremdungsangst. Der antisemitische Historiker Heinrich von Treitschke, der 1879 den „Berliner Antisemitismusstreit“ auslöste, erklärte damals, dass die Juden, die massenhaft aus Polen nach Deutschland strömen würden, heute Hosen verkaufen und morgen die Presse, die Börse, die Politik und das ganze Land kontrollierten, wenn man ihnen nicht Einhalt gebiete. Auch hier gibt es eine Parallele zum rechtspopulistischen Narrativ, dass die Muslime nur deshalb einwandern würden, um gewaltsam Mission zu betreiben und Europa zu islamisieren.
Besteht nicht – bei allen Gemeinsamkeiten – gerade hier ein wesentlicher Unterschied: nämlich darin, dass das antisemitische Ressentiment mit Verschwörungsphantasien, also einer projizierten Allmacht einhergeht, während Muslimfeindlichkeit und andere Rassismen ihre Hassobjekte als wesenhaft unterlegen definieren?
Das würde ich bestreiten. Das Verschwörungsphantasma ist kein Alleinstellungsmerkmal des judenfeindlichen Ressentiments. Verschwörungstheoretischen Argwohn finden wir auch gegenüber Muslimen. Der rechtspopulistische Publizist Udo Ulfkotte zum Beispiel behauptete in einem seiner sehr erfolgreichen Bücher, die Schweizer Polizei habe einen geheimen Plan der Muslimbrüder zur Eroberung Europas entdeckt.
Verschwörungskonstrukte sind wandelbar und migrationsfähig. So ist etwa der gegen Juden gerichtete Verschwörungsmythos der „Protokolle der Weisen von Zion“ aus Europa in die islamische Welt exportiert worden.
[Lesen Sie hier unsere kulturhistorische Analyse über Antisemitismus in der islamischen Welt.]
Im ebenfalls von den „Protokollen“ beeinflussten und in der rechten Szene extrem populären Verschwörungsmythos vom „großen Austausch“, werden die muslimischen Zuwanderer mitunter als „Migrationswaffe“ des „Weltjudentums“ bezeichnet, das den vermeintlichen Bevölkerungsaustausch von der Hinterbühne aus orchestrieren würde. Die Muslime agieren somit auf der Vorderbühne und gelten als Werkzeug der Juden. Nehmen die beiden Gruppen in den Weltbildern zeitgenössischer Menschenfeinde nicht unterschiedliche Rollen ein?
Meiner Wahrnehmung nach nicht. Das lässt sich auch an historischen Beispielen zeigen. So gibt es zwar viele mittelalterliche Quellen, die die Juden für die Vergiftung von Brunnen und das Auslösen von Pestepidemien verantwortlich machen. An anderen Stellen findet sich aber zum Beispiel auch der Vorwurf, dass die Muslime die Juden zur Brunnenvergiftung angestiftet hätten.
In dieser Erzählung sind die Juden das Werkzeug der Muslime. Auch in der katholischen Theologie wurde von Judenfeinden mitunter der Zusammenhang konstruiert, dass die Juden von den Muslimen zu bösen Taten angestiftet würden. Der antisemitische Verschwörungsmythos ist das älteste dieser Narrative. In meinem Buch versuche ich aber zu zeigen, dass die Minderheit, die der Verschwörung bezichtigt wird, je nach Zusammenhang variiert.
Ressentiments sind hartnäckig, wandern von einer Generation in die nächste und passen sich dem jeweiligen Zeitkontext an. Die Judenfeindschaft etwa hat vom religiösen Antijudaismus über den biologistischen Antisemitismus bis hin zum geopolitischen Antizionismus immer neue Formen angenommen. Haben Sie Hoffnung, dass die Gesellschaft den kulturell tief verwurzelten Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit irgendwann überwinden könnte?
Diese Hoffnung habe ich leider nicht, die kann man als alter Historiker nicht haben. Trotzdem bin ich nicht resigniert oder mutlos. Wir werden immer einen Bodensatz von Unvernunft, Dummheit und Menschenfeindlichkeit haben. Und doch gibt es hierzulande eine große Mehrheit, die sich nicht vom Hass infizieren lässt.
Ich halte auch das Gerede, dass man den Antisemitismus nun endlich einmal bekämpfen müsse, für falsch. Wir bekämpfen ihn energisch seit Jahrzehnten. Ich will nicht wissen, was los wäre, wenn man der Judenfeindschaf freien Lauf ließe. Man darf sich nur nicht der Illusion hingeben, dass man das Übel mit einem Schlag loswerden könnte. Man muss dieses Übel aber systematisch kleinhalten. Wirksame Dämme dagegen aufzurichten, ist heute notwendiger denn je.
Was kann man ganz konkret tun, um Vorurteile abzubauen und die von ihnen ausgehende Gewaltspirale zu durchbrechen?
Bildung und Zivilcourage. Jeder muss an seinem Platz tätig werden. Ich habe zum Beispiel kein Verständnis für Schulleiter, die sich in den Medien darüber beklagen, dass „Jude“ auf dem Pausenhof als Schimpfwort benutzt wird. Die Schulleitung muss das in den Griff bekommen, sie muss den Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass das ein absolutes No-Go ist.
Die Verantwortung liegt bei jedem Einzelnen. Die allgemeine Duckmäuserei, das Wegschauen, wenn Menschen im Alltag diskriminiert werden, ist ein großes Übel, das katastrophale Folgen haben kann.
[Wolfgang Benz: Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart. Herder Verlag, 2020. 480 Seiten, 26 €.]