Gegen das „Gift des Rechtsextremismus“: Bundesregierung beruft Expertenkreis gegen Islamfeindlichkeit
Die Hälfte der Deutschen nimmt den Islam als Bedrohung wahr. Ein neues Gremium soll ab diesem Mittwoch Strategien gegen Muslimfeindlichkeit entwickeln.
Es gibt die spektakulären Verbrechen. Den Terroranschlag des Norwegers Anders Breivik im Sommer 2011 etwa, der 77 Menschen ermordete, als Akt gegen eine vermeintliche „islamische Kolonisation“. Der Angriff auf eine Moschee im kanadischen Quebec im Jahr 2017. Das Attentat in der neuseeländischen Stadt Christchurch im vergangenen Jahr, als ein Rechtsextremist zwei Moscheen stürmte und 50 Gläubige erschoss. Oder die Anschläge in der hessischen Stadt Hanau im Februar, als neun Menschen in und vor zwei Shishabars erschossen wurden. Laut Generalbundesanwalt lägen „gravierende Indizien für einen rassistischen Hintergrund“ vor.
Und es gibt die weniger spektakulären, alltäglichen Fälle. Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Beleidigungen. Der Schweinekopf vor einer Moschee, die Drohungen gegen den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, das Abreißen von Kopftüchern auf offener Straße.
Im Jahr 2019 wurden in Deutschland nach Angaben der Bundesregierung 871 Übergriffe auf Muslime gemeldet, 33 Muslime wurden dabei verletzt, zwei aus islamfeindlichen Motiven getötet. Allerdings werden islamfeindliche Straftaten überhaupt erst seit 2017 gesondert erfasst. Deswegen lassen sich langfristige Trends noch nicht exakt diagnostizieren.
Islam als politische Ideologie
Um mehr Licht in das Dunkel zu bringen, konstituiert sich an diesem Mittwoch in Berlin der „Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ (UEM). Er besteht aus zwölf Personen – sechs Wissenschaftlern und sechs Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Bildungs- und Dokumentationsstätten sowie Stiftungen. Einberufen wurden sie von Bundesinnenminister Horst Seehofer als Reaktion auf den Anschlag in Hanau. Der sei ein „weiterer Beweis dafür, dass das Gift des Rechtsextremismus das Böse im Menschen zu Tage treten lässt“, sagte er.
Der UEM soll „praxisorientierte Ansätze“ ausarbeiten, „um Muslimfeindlichkeit zu identifizieren, zu bekämpfen und vorzubeugen“, kündigte Seehofer an. Er selbst war lange Zeit für den Satz kritisiert worden, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. In zwei Jahren soll der UEM einen Abschlussbericht vorlegen. Untersucht würden auch Schnittmengen mit antisemitischen Haltungen und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, heißt es. „Muslimfeindliche Haltungen sind nicht nur eine Bedrohung für Muslime“, so Seehofer, „sondern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.“
Dem Expertenrat gehören an: Iman Attia (Alice-Salomon-Hochschule Berlin), Karim Fereidooni (Ruhr-Universität Bochum), Kai Hafez (Universität Erfurt), Anja Middelbeck-Varwick (Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M.), Mathias Rohe (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Christine Schirrmacher (Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Yasemin Shooman (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung), Karima Benbrahim (Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit), Saba-Nur Cheema (Bildungsstätte Anne Frank), Yasemin El-Menouar (Bertelsmann Stiftung), Özcan Karadeniz (Verband binationaler Familien und Partnerschaften), Nina Mühe (Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit).
Islam-Skepsis, Islam-Feindschaft
Rund die Hälfte der Deutschen nimmt den Islam als Bedrohung wahr: Das ist das Ergebnis der Untersuchung „Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie“, die auf der Basis des repräsentativen „Religionsmonitors“ der Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr veröffentlicht worden war.
Yasemin El-Menouar ist Religionsexpertin der Bertelsmann-Stiftung und Mitglied im UEM. Ihr zufolge ist das Bedrohungsgefühl im Osten Deutschlands stärker ausgeprägt als im Westen, bei älteren Nicht-Muslimen stärker als bei jüngeren, die Angst vor dem Islam sei dort am größten, wo die wenigsten Muslime leben. Offenbar würden viele Deutsche den Islam nicht in erster Linie als Religion wahrnehmen, sondern als politische Ideologie. Allerdings müsse zwischen Islam-Skepsis und Islam-Feindschaft unterschieden werden.
Manifest wird das verbreitete Unbehagen oft am ewigen Streit über das Kopftuch. „Das Kopftuch hierzulande ist inzwischen anders konnotiert als in manchen islamisch geprägten, patriarchalen Ländern“, sagt El-Menouar. „Viele kopftuchtragende Frauen in Deutschland sehen das Kopftuch als ein Ausdruck der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Dieses gewandelte Verständnis zu ignorieren, bedeutet letztlich, die reaktionären und islamistischen Kräfte in ihrem überkommenen Religionsverständnis zu bestätigen.“ Die Sichtbarkeit gelebter Religion gehöre zu einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. „Ich möchte nicht, dass Religiosität versteckt, heimlich und im Dunkeln gelebt wird.“