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Schüler sitzen mit Masken in Kiel im Unterricht.
© Gregor Fischer/dpa

„Es ist jetzt ein heikler Moment“: WHO sieht Schulen nicht als Treiber der Pandemie

Das Klassenzimmer sei nicht der Hauptfaktor für die Ausbreitung des Coronavirus, sagt die WHO – nennt aber Gruppentreffen Jugendlicher ein großes Risiko.

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) befeuern Schulen die Ausbreitung des Coronavirus nicht. Gleichzeitig warnte die WHO am Donnerstag aber davor, dass es immer mehr Hinweise gebe, dass Jugendliche bei gesellschaftlichen Zusammenkünften andere Menschen infizierten. Dies erklärte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, bei einer Pressekonferenz. „Bis jetzt wissen wir, dass das schulische Umfeld kein Hauptfaktor für die Epidemie war“, sagte Kluge.

Dies sei eine der wichtigsten Prioritäten für die politischen Entscheidungsträger der Weltgesundheitsorganisation, sagte Kluge. „Was wir wissen, ist, dass wir keine Gesellschaften öffnen können, ohne zuerst die Schulen zu öffnen“, sagte er. „Der Schlüsselpunkt ist also, dass es sehr stark vom Grad der Übertragung in der Gemeinschaft abhängt.“ Grundlegende Schutzmaßnahmen müssten überall angewendet werden.

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„Es ist jetzt ein heikler Moment, wenn wir vom Sommer in den Herbst übergehen und drei Phänomene aufeinander treffen“, sagte Kluge. Als die wichtigsten Herausforderungen, denen sich die europäischen Länder in den kommenden Wochen stellen müssten, nannte er die Wiedereröffnung von Schulen, die bevorstehende Grippesaison und die erhöhte Sterblichkeitsrate bei älteren Menschen, die während des vergangenen Winters zu beobachten war. Ältere Menschen müssten sich mit einer Grippeimpfung schützen, wenn der Winter näher rücke.

„Es mag sein, dass die jüngeren Menschen nicht unbedingt daran sterben werden, aber es ist ein Tornado mit einem langen Schwanz. Es handelt sich um eine Multiorganerkrankung, so dass das Virus in Wirklichkeit die Lunge, aber auch das Herz und andere Organe angreift“, sagte Kluge. „Jüngere Menschen werden, insbesondere mit dem kommenden Winter, in engerem Kontakt mit der älteren Bevölkerung stehen“, sagte er. „Wachsamkeit ist also wirklich das Schlüsselwort.“

Der WHO-Regionaldirektor für Europa Hans Kluge Ende März.
Der WHO-Regionaldirektor für Europa Hans Kluge Ende März.
© imago images/Ritzau Scanpix/Ida Guldbaek Arentsen

Mit dem Ende der Sommerferien hatte es in Deutschland wie in fast allen anderen europäischen Staaten Streit um die Rolle der Schulen in der Pandemie gegeben und darüber, welche Schutzmaßnahmen gelten sollten. Bundesweit haben sich nach den Sommerferien Dutzende Schüler und Lehrer mit dem Coronavirus infiziert. Einzelne Schulen wurden vorübergehend wieder geschlossen.

NRW ist das einzige Bundesland, das eine Maskenpflicht im Schulunterricht eingeführt hat. Am Donnerstag sagte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) jedoch, dass die Pflicht am 31. August enden werde. Es gelte aber weiterhin eine Maskenpflicht in Schulgebäuden außerhalb des Unterrichts.

Eine Maskenpflicht im Unterricht hatte zuletzt auch Offenbach in Hessen wegen erhöhter Ansteckungszahlen getroffen. Ansonsten beschränkt sich die Maskenpflicht an den Schulen in Deutschland bisher vorwiegend auf Bereiche außerhalb des Klassenzimmers.

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Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle veröffentlichte eine Stellungnahme zur Maskenpflicht an Schulen, an der auch Chef-Virologe der Berliner Charité, Christian Drosten, beteiligt war. Darin hieß es, es müsse verhindert werden, dass Schulen und Kitas ganz schließen müssten. Deshalb empfahlen die Wissenschaftler das Tragen von Masken im Unterricht, besonders, wenn kein ausreichender Abstand möglich sei. „Überall, wo es umsetzbar ist“ sollten zudem kleine, feste Kontaktgruppen eingerichtet werden. Im Fall eines Corona-Ausbruchs in einer Kontaktgruppe, müsste nur diese in Quarantäne.

In der Pandemie hatten sich fast alle europäischen Staaten dazu entschlossen, die Bildungseinrichtungen zu schließen. Einzige Ausnahme war das EU-Land Schweden. Dort ging der Schulbetrieb für Kinder bis zu Klasse 9 weiter. Auch die Kindertagesstätten waren geöffnet. Nur für die älteren Schüler und Studierenden gab es Fernunterricht. Der schwedische Staatsepidemiologe Tegnell vertrat in der Pandemie von Beginn an die Ansicht, dass Kinder bei der Verbreitung des Virus keine bedeutende Rolle spielen und empfahl der Regierung, die Schulen offen zu halten. Dafür war er heftig kritisiert worden.

Tegnell argumentierte stets, die Entscheidung habe auch einen klaren Vorteil für Familien – und die Gesellschaft. Beide Eltern konnten weiterarbeiten. Er betonte immer wieder, wie wichtig dies besonders dafür sei, dass das Gesundheitssystem weiter funktioniere. Zudem blieb Kindern der Alltag erhalten; sie bekamen weiter das in Schweden kostenlose Schulessen. Besonders für Familien aus einkommensschwachen Schichten ein nicht zu vernachlässigender Faktor. „Man darf nicht vergessen, dass ein Lockdown auch gesundheitliche Folgen haben kann.“ Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden an Körper und Geist auslösen. Und dies betreffe Kinder ganz besonders.

Kurz nach dem Ende der Sommerferien verteidigte auch Ministerpräsident Stefan Löfven den Kurs. „Das, was am meisten diskutiert wurde und was wir in Schweden anders gemacht haben, war, die Schulen nicht zu schließen. Inzwischen gibt es einige Leute, die denken, dass wir damit richtig lagen“, sagte er in einem Interview mit der Tageszeitung „Dagens Nyheter“.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Während die Zahl der Neuinfektionen in weiten Teilen Europas wieder steigt, sinkt sie in Schweden seit Anfang Juli stetig. Bis Donnerstag 5820 wurden rund 84.000 Menschen positiv getestet. 5820 Menschen verstarben an Covid-19 – dies ist im internationalen Vergleich bezogen auf die Einwohnerzahl eine hohe Rate.

[Warum Schweden von seinem Weg überzeugt ist, lesen Sie hier.]

Tegnell sieht auf das Land im Herbst auch keine zweite große Covid-19-Welle zukommen. Eine weite Verbreitung in der Bevölkerung sei nicht mehr zu erwarten, sagte er Anfang der Woche dem TV-Sender TV4. Auch wenn keine „klassische zweite Welle“ zu befürchten sei, so könne es doch lokal zu neuen Ausbrüchen kommen, etwa an Arbeitsstätten. Man müsse ständig auf der Hut vor dem Virus sein, denn es sei unvorhersehbar: „Aber dass wir wieder in eine Situation wie im Frühjahr geraten, das sehen wir nicht.“

Wegen der sinkenden Zahlen stimmte die Gesundheitsbehörde am Donnerstag dem Vorschlag der Regierung zu, bei öffentlichen Veranstaltungen wieder mehr Publikum zuzulassen. Solange die Zuschauer einen Meter Abstand hielten, könne die Anzahl der Personen von 50 auf 500 erhöht werden, sagte Tegnell. Vorausgesetzt, es gäbe nummerierte Sitzplätze, wie zum Beispiel in Fußballstadien. Die Regierung empfiehlt bislang einen Abstand von zwei Metern.

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