Studierendenrekord: Werden die vielen Akademiker auch gebraucht?
In Deutschland sind so viele Studierende wie nie eingeschrieben. Doch die Frage bleibt, ob hierzulande am Bedarf des Arbeitsmarkts vorbei studiert wird.
Noch nie gab es so viele Studierende in Deutschland: Mit fast 2,9 Millionen im laufenden Wintersemester meldet das Statistische Bundesamt einen Allzeitrekord. Doch ob die Entwicklung damit in die richtige Richtung für den Innovations- und Dienstleistungsstandort Deutschland geht, ist umstritten.
Beklagt wird vor allem ein gravierender Mangel an Fachkräften für Zukunftstechnologien. Die großen Herausforderungen durch neue digitale Technologien stellten „Deutschlands bisherige Spezialisierungsvorteile in Frage“, erklärte etwa im Februar Dietmar Harhoff vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und Vorsitzender der Expertenkommission des Jahresgutachtens 2018 für Forschung und Innovation im Auftrag des Bundes. Das deutsche Bildungssystem müsse sich endlich den neuen digitalen Anforderungen stellen.
Andere bezweifeln dagegen, ob es überhaupt so viele Studierende und Hochschulabsolventen braucht. – Wird in Deutschland also am Bedarf vorbei studiert? Ein Überblick.
Zu wenige oder zu viele Akademiker
Einen „Akademisierungswahn“ beklagen Kritiker immer wieder – wie etwa der Philosoph Julian Nida-Rümelin, der wiederholt vor einer Krise der beruflichen und akademischen Bildung als Folge der immer weiter steigenden Studierendenzahlen gewarnt hat. Einschlägigen Studien und Experten zufolge ist diese These allerdings nicht haltbar. Das Gegenteil sei der Fall, sagt die Sozialwissenschaftlerin Heike Solga von Wissenschaftszentrum Berlin: „Für die allermeisten Hochschulabsolventen gilt, dass sie nach wie vor deutlich bessere Chancen am Arbeitsmarkt haben.“
Tatsächlich ging die Arbeitslosigkeit unter Akademikern 2017 noch weiter zurück und liegt jetzt bei 2,5 Prozent – also bei weniger als der Hälfte der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in Deutschland. Besonders selten arbeitslos werden laut Statistiken der Arbeitsagentur Mediziner, Juristen, Lehramtsabsolventen, Informatiker und Psychologen. Am häufigsten betroffen sind dagegen Politologen, Biologen und Journalistik-Studierende. Aber auch diese Absolventen finden immer noch leichter einen Job als der Durchschnitt in Deutschland.
Im Vergleich zu 2005 ist die Arbeitslosigkeit unter Akademikern sogar um ein Fünftel gesunken, obwohl seitdem deutlich mehr Akademiker von den Unis kamen. Für die Arbeitsagentur ist das ein deutliches Zeichen, dass der Arbeitsmarkt die vielen Hochschulabsolventen braucht. Auch vor diesem Hintergrund würde Heike Solga es für kontraproduktiv halten, jetzt auf einmal die Akademisierung in Deutschland zu stoppen und stattdessen die berufliche Bildung aufzuwerten. Sie fordert vielmehr, das berufsbegleitende Studium weiter zu stärken, um noch mehr jungen Menschen eine hochwertige Ausbildung zu ermöglichen.
Wer was studiert
Jura und Wirtschaft: Das ist die mit Abstand beliebteste Fächergruppe für Studierende in Deutschland, hier sind aktuell über eine Million eingeschrieben (siehe Grafik rechts unten). Danach kommen die Ingenieure (fast 770.000) und die Geistes-, Sprach- und Kulturwissenschaften (rund 340.000).
Auffällig ist: Der Studierendenansturm des vergangenen Jahrzehnts hat sich vor allem auf die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und die Ingenieurwissenschaften ausgewirkt, wo inzwischen mehr als doppelt so viele eingeschrieben sind wie vor zwanzig Jahren. In den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Technik, Naturwissenschaften) ist die Zahl der Studienanfänger allein seit 2005 um 48,1 Prozent gestiegen, was deutlich über dem Anstieg der Studienanfänger insgesamt liegt (40,5 Prozent). Das liegt auch daran, dass die Länder die MINT-Fächer im Hochschulpakt stärken wollten. Mit diesem Programm haben Bund und Länder in den vergangenen elf Jahren über 700.000 Studienplätze aufgebaut. Überdurchschnittlich viele Studienplätze wurden dabei zudem an Fachhochschulen aufgebaut, die traditionell mehr technisch-wirtschaftlich orientiert sind.
Die Länder steuern auch darüber hinaus dem Fachkräftemangel entgegen, indem sie Studienplätze in bestimmten Bereichen schaffen. So hat Berlin mit den einzelnen Hochschulen den Aufbau von Studienplätzen für Gesundheit und Pflege, für Polizisten im gehobenen Dienst und im Bauingenieurswesen verabredet. Die Universitäten wurden in den Berliner Hochschulverträgen für die Jahre 2018 bis 2022 dazu angehalten, die Zahl ihrer Lehramtsabsolventen auf jährlich 2000 zu verdoppeln, nachdem die Politik die Entwicklung lange verschlafen hatte. Jetzt gibt es für die Unis detaillierte Vorschriften nach Schularten und Fächern.
Nicht nur bei den MINT-Fächern fehlen Fachkräfte
Hier meldete der Berliner Senat am Mittwoch einen ersten Erfolg: In diesem Wintersemester ist die Zahl der Studienanfänger im Lehramtsstudium gegenüber dem Vorjahr um 560 gestiegen und liegt nun bei 3122. Über die Verteilung der Anfänger auf die einzelnen Fächer liegen noch keine Zahlen vor. Der Senat erwartet von den Hochschulen aber, dass sie durch gezielte Werbung mehr Studierende in Mangelfächer wie Mathematik, Naturwissenschaften oder Kunst locken.
Berlin will die Bedarfsplanung im neuen Hochschulpakt von Bund und Ländern, über den gerade verhandelt wird, festschreiben: Eine Kommission mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft soll ermitteln, wo Fachkräfte gebraucht werden und wo entsprechend zusätzliche Studienplätze aufgebaut werden sollten. Bund und Länder sollen sich verpflichten, ein Viertel der Mittel entsprechend einzusetzen, heißt es in dem Papier von Staatssekretär Steffen Krach, das dem Tagesspiegel vorliegt.
Dass die lange beklagte „Lücke“ in den MINT-Fächern seit Beginn der 2010er Jahre jedenfalls allmählich geschlossen wird, konstatiert der „Ländercheck Fachkräftenachwuchs“ des Stifterverbands. So hat sich die Zahl der Absolventen in den Ingenieurwissenschaften zwischen 2010 und 2015 um fast die Hälfte erhöht. „Ein allgemeiner Fachkräftemangel in den MINT-Berufen, wie er noch vor ein paar Jahren befürchtet wurde, droht damit eher nicht mehr“, hieß es. Gerade im IT-Bereich werden aber dennoch Experten händeringend gesucht – aktuell fehlen 40.000, stellt der diesjährige MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft fest.
Im Informatik- und Digitalisierungs-Hype sieht Christian Thomsen, der Präsident der TU Berlin, allerdings auch eine Gefahr. Schon heute sei ein leicht zurückgehendes Interesse an Studiengängen in der Verfahrenstechnik zu beobachten. Sie könnten in der chemischen Industrie in einigen Jahren fehlen. „Das ist politisch momentan nicht ,in’, aber für die gesamte produktive Wirtschaft genauso wichtig“, sagt Thomsen. Von der Studienwahl nach Konjunkturen rate die TU auch jedem Abiturienten ab. Ein gutes Studium und einen qualifizierenden Abschluss könne nur schaffen, wer ein wirkliches Interesse für das Fach aufbringt.
Deutschland im internationalen Vergleich
Deutschland ist schon jetzt MINT-Weltmeister: In keinem Land der Welt ist der Anteil der Absolventen aus dieser Fachgruppe so hoch wie hierzulande. Führend beim Anteil geisteswissenschaftlicher Absolventen sind dagegen Japan und die USA. Was die Gesamtstudierendenquote eines Jahrgangs angeht, liegt Deutschland mit aktuell 53 Prozent übrigens noch immer leicht unter dem Schnitt der OECD-Länder (58 Prozent).
Frauen in MINT-Studiengängen
„Mädchen, Mathe, Informatik und Technik“ – diese Kombination war lange keine Selbstverständlichkeit. Ungezählte Initiativen arbeiten daran, das zu ändern. „Komm, mach MINT“, lockt ein Bundesprogramm – mit zunehmendem Erfolg. Der Zahl der Frauen in den MINT-Studiengängen hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt: von knapp 60.000 im Jahr 2008 stieg er auf gut 115.000 im Wintersemester 2017/18. Dennoch liegt der Frauenanteil in den MINT-Studiengängen immer noch bei gerade 25 Prozent.
Warum es den Hochschulen trotz aller Programme nicht gelingt, mehr junge Frauen für IT-Studiengänge zu begeistern, hat das Centrum für Hochschulentwicklung untersucht. Das alte Bild der „Technikunfähigkeit“ von Frauen wirke ebenso abschreckend wie das „Nerd-Image“ der Informatik. Doch das gilt nur für die klassische Informatik, wo der Anteil bei 16,5 Prozent liegt. In Fächern mit großem Anwendungsbezug im Titel – wie Bio- und Medizininformatik – studieren mit knapp 36 und gut 43 Prozent sehr viel mehr Frauen.