Bildungspolitik: Was tun die Bundesländer gegen den Lehrermangel?
Bundesweit fehlen Lehrkräfte vor allem für die Grundschulen. Die Länder setzen nun auf verschiedenste Notmaßnahmen – auch Pensionäre und Studierende müssen ran.
Thüringen will ehemalige DDR-Horterzieherinnen reaktivieren, um die Personalnot in der Schule zu lindern. Sachsen lockt Lehrkräfte mit einer Prämie, wenn sie aufs Land gehen. Und Berlins Schulen behelfen sich zunehmend mit Lückenfüllern, die noch nicht mal als Quereinsteiger bezeichnet werden dürfen: drei aktuelle Beispiele, wie Bundesländer verzweifelt versuchen, dem Lehrermangel zu begegnen.
Lehrkräfte händeringend gesucht: Zum Start des neuen Schuljahres spitzt sich die Lage insbesondere in Ostdeutschland und den Stadtstaaten Bremen und Berlin zu. In Sachsen sind 230 Stellen unbesetzt, in Sachsen-Anhalt waren zum Schulbeginn an den Sekundarschulen fast die Hälfte der ausgeschriebenen Stellen noch offen. Brandenburg will das Referendariat auf ein Jahr verkürzen und gibt erst am Freitag offiziell bekannt, ob alle Lehrerstellen besetzt sind. Die Berliner Bilanz gibt es am Donnerstag, aber schon jetzt steht fest, dass die gelernten Lehrer unter den Neueinstellungen in der Minderheit sind.
"Die Unterrichtsversorgung ist auf Kante genäht"
Eine offizielle Zahl, wie viele Lehrer bundesweit fehlen, ist zurzeit nicht erhoben. Von "mehreren Tausend" geht Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), aus. Dazu würden Tausende Stellen kommen, die inzwischen in mehreren Bundesländern mit Quer- und Seiteneinsteigern besetzt sind. Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt, dass selbst in eher gut ausgestatteten Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen "die Unterrichtsversorgung auf Kante genäht" ist.
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Der Mangel dürfte sich in den nächsten Jahren verschärfen. Denn die Schülerzahlen steigen stärker als angenommen, weil mehr Kinder geboren werden und junge Menschen nach Deutschland zuwandern. Eine Prognose, wie viele zusätzliche Lehrkräfte künftig gebraucht werden, wollen die Kultusminister Ende des Jahres präsentieren. Die Bertelsmann-Stiftung schätzt, bis 2025 könnten allein 35 000 Lehrkräfte für die Grundschulen fehlen. Für die Sekundarstufe I würden 2030 rund 27 000 Lehrkräfte mehr gebraucht als heute. Die Zahl der Lehramtsabsolventen reicht nicht aus, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken. Es wird also auch künftig Behelfslösungen bedürfen, wie die Bildungsforscher Klaus Klemm und Dieter Zorn in einer Studie schreiben.
Doch viele Maßnahmen sind umstritten. Ein Überblick, was die Länder machen – und wie sinnvoll das wirklich ist.
Quereinstieg
Von Jahr zu Jahr steigt in etlichen Ländern die Bedeutung von beruflichen Quereinsteigern, auch "Seiteneinsteiger" genannt. Aus Sachsen hieß es bereits 2017, dass unter den Neueinstellungen über die Hälfte keinen Lehramtsabschluss vorweisen konnten. In Berlin werden seit 2016 vermehrt Quereinsteiger in die Schulen geholt. Im Jahr 2017 mussten in den Berliner Grundschulen über 50 Prozent der freien Stellen mit Quereinsteigern besetzt werden. In diesem Jahr reichen die Quereinsteiger nicht mehr, es gibt nicht genügend Bewerber. Denn nicht jeder kann Quereinsteiger werden. Voraussetzung ist ein Masterstudium oder ein Diplom in zumindest einem Fach, das mit einem Fach der Berliner Schule verwandt ist. Wer diese Bedingung erfüllt, kann das Zweitfach berufsbegleitend nachstudieren und dann Referendar werden. Am Ende werden diese Quereinsteiger statistisch als vollwertige Lehrkräfte und nicht mehr als Quereinsteiger erfasst. Brandenburg akzeptiert inzwischen sogar Absolventen mit Fachhochschulabschluss als Seiteneinsteiger.
Fachfremde
Wer die Bedingungen für den Quereinstieg nicht erfüllt, weil er kein Fach studiert hat, das mit einem Schulfach verwandt ist, kann dennoch als Lehrer eingestellt werden, sofern die betreffende Schule ihre Lücken nicht anderweitig füllen kann. Diese "Lehrer ohne volle Lehrbefähigung" (LovLs) verdienen weniger als reguläre Lehrkräfte. In Ländern mit besonders akutem Lehrermangel wie Berlin gewinnen diese LovLs zunehmend an Bedeutung.
Höhere Gehälter und Prämien
Der Lehrermangel führt dazu, dass Lehrer besser bezahlt werden: Insbesondere die Tatsache, dass mehrere Länder wie NRW und Schleswig-Holstein dem Berliner Beispiel folgen und Grundschullehrer ebenso bezahlen wollen wie Oberschullehrer, ist dem bundesweiten Grundschullehrermangel geschuldet – aber auch der Tatsache, dass in einigen Ländern das Grundschulstudium nicht mehr kürzer ist als das Oberschulstudium. Erstmals in der Tarifgeschichte gibt es Grundschullehrer, die mit A13 besoldet werden. In Sachsen wiederum bekommen Referendare eine Zulage von 1000 Euro, wenn sie in den ländlichen Raum gehen.
Zurück zur Verbeamtung
Seit über 20 Jahren gab es immer wieder in einzelnen Bundesländern das Bemühen, die künftigen Pensionslasten zu drücken, indem Lehrer nicht mehr verbeamtet werden. Wegen des Lehrermangels und aus wahltaktischen Gründen sind aber fast alle Länder zur Verbeamtung zurückgekehrt: zuerst Schleswig-Holstein, zuletzt Sachen, dazwischen Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und weitere Länder. Einzig Berlin hält an der Nichtverbeamtung fest und versucht den Standortnachteil durch höhere Angestelltengehälter zu kompensieren. Die Berliner CDU fordert die Rückkehr zur Verbeamtung, der Landesparteitag der SPD hat sich aber gerade erst dagegen ausgesprochen. Grüne und Linke stehen in diesem Punkt an der Seite des Koalitionspartners.
Reaktivierung von DDR-Lehrern
Wegen des Lehrerüberhangs in der Nachwendezeit meinten die Länder, ohne jene DDR-Lehrer auskommen zu können, die ausschließlich für die ersten vier Grundschuljahre ausgebildet waren. Diese sogenannten Lehrer unterer Klassen ("LuK- Lehrer") wurden in der Folge als Horterzieherinnen eingesetzt und bezahlt, sofern sie keine Lehrer-Weiterbildungen belegen konnten oder wollten. Der Lehrermangel hat dazu geführt, dass sich die Bildungsminister an diesen Pädagogenkreis erinnerten: In Brandenburg und Berlin sind sie längst wieder dabei, Erstklässler zu alphabetisieren. In diesem Jahr will auch Thüringen rund 1000 frühere LuK-Lehrer für den Schuldienst reaktivieren. Knapp 150 haben sich schon bereit erklärt, wieder zu unterrichten.
Später in Pension
Lehrkräfte zu bewegen, später in Pension zu gehen – oder bereits Pensionierte in den Schuldienst zurückzuholen – versuchen ebenfalls zahlreiche Länder. Im Bremen etwa sollen Lehrer freiwillig fünf Jahre länger arbeiten. Auch Hamburg will pensionierte Lehrer länger halten – auch wenn die Lage dort noch deutlich entspannter ist als in Berlin, wo ebenfalls um Pensionäre geworben wird.
Studierende in die Schulen
Seit Jahren verdienen sich Studierende etwas dazu, indem sie stundenweise als Vertretungslehrer jobben. Das ist vor allem in den Ländern üblich, die keine festen Vertretungsreserven an ihren Schulen haben. Berlin geht dieses Jahr noch einen Schritt weiter und bietet den Studierenden in den lehramtsbezogenen Masterstudiengängen an, befristet auf sechs oder zwölf Monate bis zu einer halben Lehrerstelle auszufüllen, Motto: "Unterrichten statt Kellnern".
Mehrarbeit
In den Grundschulen arbeiten nur 47 Prozent der Lehrkräfte in Vollzeit. Viele Länder wollen daher Teilzeitkräfte motivieren, aufzustocken. In Rheinland-Pfalz würden sogar Anträge auf Reduzierung der Arbeitszeit bereits abgelehnt, heißt es bei der GEW. Dass Teilzeitkräfte mehr unterrichten, halten Bildungsforscher für eine der sinnvollsten Akutmaßnahmen gegen den Lehrkräftemangel. Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte im Juni sogar angekündigt, mit dem Hauptpersonalrat eine Dienstkräftevereinbarung abzuschließen, mit dem Ziel, dass Lehrer freiwillig zwei Stunden mehr arbeiten und dafür pro Monat 350 Euro mehr verdienen. Jetzt teilte ihre Sprecherin aber auf Anfrage mit, dass diese Idee nicht umgesetzt werden kann, weil es eine anderslautende Rechtsverordnung gibt.
Andere Berufe
Wenn Schulen ihre Lehrerstellen nicht besetzen können, bietet ihnen Berlin inzwischen an, mit den dafür zur Verfügung stehenden Personalmitteln Vertreter anderer Berufsgruppen einzustellen, die imstande sind, Lehrer oder Sonderpädagogen teilweise zu ersetzen. Das können Pädagogische Unterrichtshilfen, Sprachlernassistenten, Betreuer und Sozialarbeiter sein. Künftig soll die Möglichkeit auch für Logopäden, Musik- und Ergotherapeuten sowie für Psychologen geschaffen werden.
Fazit
Dass alle diese Maßnahmen ausreichen, um den Lehrkräftemangel nachhaltig zu beheben, bezweifeln viele Experten. Und bis etwa der Aufbau von mehr Studienplätzen im Lehramt, den jetzt neben Berlin zum Beispiel auch Bayern forciert, Wirkung zeigt, wird es lange dauern – wenn man bedenkt, dass vom Studienanfang bis zum "fertigen Lehrer" mindestens sechs Jahre nötig sind.
Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe vermisst insgesamt eine gemeinsam gesteuerten Bedarfsplanung der Kultusminister: "Das hätten sie seit Jahren tun müssen." Die Länder müssten sich endlich um eine kontinuierliche Einstellung von Lehrkräften kümmern: "Das nächste Loch kommt sonst bestimmt." Der Philologenverband fordert daher einen Runden Tisch von Ministerpräsidenten und Kultusministern: Der Misere könne man nur länderübergreifend abhelfen.