Experimentelle Therapien: Wenn Medikamententests katastrophal enden
Geschäftsgeheimnisse und große Hoffnung, Schlamperei und Geld: 2016 starben allein bei Medikamententests der Firmen Bial und Juno sechs Menschen. Was lief schief und welche Lehren wurden daraus gezogen?
Vor einem Jahr, am 7. Januar 2016, machte sich Guillaume Molinet auf den Weg zum Forschungsinstitut Biotrial in Rennes. Dort wollte der Künstler ein bisschen Geld verdienen, 1900 Euro, und dafür ein Mittel mit dem Code BIA10-2474 des kleinen, aber aufstrebenden portugiesischen Pharmaherstellers Bial nehmen. Es sollte gegen alles mögliche helfen, angefangen bei Schmerzen über Herz-Kreislauf-Leiden und Krebs bis hin zu Parkinson. Drei Tage schluckte Molinet die Kapseln. Dann wurde ihm schwindlig, er sah doppelt, sein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Er starb am 17. Januar 2016 – ein vormals gesunder Mann. Vier weitere Freiwillige leiden bis heute unter anderem an Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen und Sehstörungen, sie zittern.
Der Fall erschütterte nicht nur Frankreich. „Einen Vorfall ähnlicher Schwere bei einer Phase-I- Studie gab es zuletzt vor mehr als zehn Jahren bei der Erprobung eines Medikaments in London. Damals konnten aber alle Teilnehmer gerettet werden“, sagte Rolf Hömke vom Verband forschender Arzneimittelhersteller damals. Molinet sollte jedoch nicht der einzige bleiben, der 2016 während eines Medikamententests starb.
Nach dem Drama von Rennes suchten Forscher nach Erklärungen. BIA 10-2474 zählte zur Gruppe der FAAH-Hemmer, die auf das Endocannabinoid-System im Gehirn wirkt, aber nicht im Detail verstanden ist. Es soll verhindern, dass schmerzstillende, entzündungshemmende und angstlösende Cannabis-ähnliche Stoffe abgebaut werden. Vermutlich habe sich das Mittel im Gehirn abgelagert und wurde so zum Gift, hieß es im Abschlussbericht eines unabhängigen Expertengremiums. Was genau im Kopf des Verstorbenen passierte, bleibt weiterhin ein Rätsel.
Für die Gesundheitsministerin stand der Schuldige bald fest
Die französische Gesundheitsministerin Marisol Tourraine aber präsentierte bereits im Februar einen Schuldigen: Biotrial. Sie sprach von Versäumnissen des Forschungsinstituts, das im Auftrag von Bial den Wirkstoff testete. Biotrial habe sich nicht ausreichend über die Gesundheit Molinets informiert, die Studie nicht schnell genug abgebrochen und die Behörden nicht rechtzeitig benachrichtigt.
Die Vorwürfe wiegen schwer. Aber sie zogen keine ernsten Konsequenzen nach sich. Denn die Ministerin verkündete gleichzeitig, der Versuch sei regelkonform verlaufen. Tatsächlich bewerteten internationale Experten die Situation vollkommen anders. „Das Protokoll der Studie war viel zu riskant“, warnte Joerg Hasford, Vorsitzender des Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen in Deutschland. Die Dosierung wurde von Testgruppe zu Testgruppe zu schnell erhöht, die Auswertung der letzten Ergebnisse zur Verstoffwechslung nicht abgewartet. Die Firma verwendete ältere, weniger vergleichbare Resultate von Probanden, die lediglich ein Fünftel des Wirkstoffs eingenommen hatten. Die Vorgaben der Europäischen Arzneimittelagentur für klinische Studien wurden ausgereizt, unklare Ergebnisse aus Tierversuchen übersehen. „Eine solche Studie wäre bei uns nicht genehmigt worden“, sagte Hasford.
Verantwortlich für die Genehmigung ist aber nicht Biotrial, sondern die französische Arzneimittelbehörde ANSM und eine Ethikkommission, die in Frankreich „Komitee zum Schutz von Probanden“ heißt. Sie prüfen die Studien, bevor der erste Teilnehmer die Wirkstoffkandidaten schluckt und sollen in einem Prozess, den Probanden nicht bis ins Detail verstehen können, ein Sicherheitsnetz bieten. Warum haben diese beiden Aufsichtsgremien die Fahrlässigkeit nicht bemerkt?
Hoffnung für verzweifelte Patienten
Antworten blieben sowohl der im Mai 2016 veröffentlichte Untersuchungsbericht der der staatlichen Kontrollbehörde IGAS als auch der Ende April veröffentlichte unabhängige Expertenbericht schuldig. Sie befassten sich auch nicht mit der Frage, warum weder Zulassungsbehörde noch Ethikkommission Zwischenberichte über die vorausgegangenen Tests verlangten. Stattdessen konzentriert sich der IGAS-Bericht weiter auf Biotrial und fordert unter anderem, dass Kommunikationsprozesse überarbeitet werden sollten. Forderungen, „die Biotrial nach dem Vorfall längst umgesetzt hatte“, sagt Ghislain de Franqueville, der für Biotrial spricht.
Jenseits des Atlantiks, in einem Krankenhaus in St. Louis, klammerte sich unterdessen Max Vokhgelt verzweifelt an eine Hoffnung. Bereits als Schüler war er an einer B-Zell-Leukämie erkrankt, musste dreieinhalb Jahre Chemotherapie über sich ergehen lassen. Er erlitt schwere Nebenwirkungen, galt aber 2014 als geheilt. Doch Anfang 2016 kam der Krebs zurück und der 24-Jährige vertrug die giftigen Substanzen gar nicht mehr, berichtete die medizinische Nachrichtenwebseite „Stat“. Ihm blieb ihm nur eine Option: eine experimentelle Immuntherapie. Er meldete sich für eine Studie des Pharma-Startups Juno Therapeutics. Den Patienten werden eigene Abwehrzellen entnommen und im Labor so verändert, dass sie entartete Blutzellen angreifen und vernichten. Das CAR-T-Zellen-Verfahren gilt als äußerst vielversprechend, Juno hat bereits Schwerkranke auf diese Art von ihrem Krebs geheilt. Auch Pharmagiganten wie Novartis interessieren sich für CAR-T-Zellen und haben eigene Studien. Max Vokhgelt war nicht unter den Geretteten. Er starb am 24. Mai 2016 an einer unerwarteten Komplikation.
Mit einer Schwellung des Gehirns rechnete niemand
Der Ansatz und das Studiendesign unterscheiden sich grundlegend von den Experimenten in Frankreich. Ärzten ist bewusst, dass die Therapie sehr riskant sein kann. Je nach Versuch gerät zum Beispiel das getunte Abwehrsystem bei 20 bis 30 Prozent der Patienten außer Kontrolle und greift den gesamten Körper an – ein Zytokinsturm, wie er bei Eingriffen ins Immunsystem vorkommen kann. Die Nebenwirkung ist nur mit Mühe in den Griff zu bekommen. Deshalb dürfen solche Therapien nur schwerkranke Menschen testen. Für sie bedeuten die Studien gewöhnlich eine letzte Chance, ihre Krankheit doch zu besiegen oder das Leben ein wenig zu verlängern. Viele sterben dennoch, das ist – so zynisch es klingt – normal. Mal schlägt die gewählte Therapie nicht an, mal sind die Patienten zu krank. Aber nur sehr selten kommt es zu Todesfällen aufgrund der experimentellen Therapie.
Fünf Tote in einem halben Jahr
Max Vokhgelt erlag nicht dem Krebs, sondern einem Hirnödem – einer Schwellung des Gehirns. Sie wurde zuvor noch nie bei einer CAR-T-Therapie beobachtet. Also meldete Juno den Vorfall der amerikanischen Arzneimittelaufsicht FDA, brachte ihn aber nicht mit den Tests in Zusammenhang. Sie liefen weiter, bis Juli mit 20 Patienten. Dann starben zwei weitere Menschen. Erst zu diesem Zeitpunkt griff die FDA ein.
Ähnlich verliefen die letzten Tage der Studie in Frankreich. Molinet habe einen Schlaganfall erlitten, glaubte man zunächst und ließ die Studie einige Stunden weiterlaufen. Zu lang für vier Probanden, deren Gehirn wohl irreparabel geschädigt wurde. Monatelang untersuchte das unabhängige Expertengremium den Fall in Rennes – mit mäßigem Erfolg. Die FDA benötigte nur drei Tage. Dann hob sie die Blockade auf. „Ein Wahnsinn“, meinten Forscher hinter vorgehaltener Hand. Von einer vergebenen Chance sprach Aaron Kesselheim, der Direktor des Programms für Arzneimittelregulation an der Universität Harvard in Cambridge.
Die Details eines Studienstopps gelten als Geschäftsgeheimnis
Eine Vorbehandlung mit dem Zytostatikum Fludarabin habe die Nebenwirkungen ausgelöst, erklärte Junos Geschäftsführer Hans Bishop. Sie werde gestrichen. Etliche Ärzte und Forscher blieben skeptisch. In Blogs und Foren diskutierten sie unter Pseudonym, ob Juno wirklich die Ursache der Todesfälle kennt. Ihre Befürchtungen bestätigten sich. Im November starben wieder zwei Patienten an Hirnödemen, innerhalb eines halben Jahres sind fünf von 38 Teilnehmern tot. Die Studie wird erneut gestoppt.
Die FDA selbst äußerte sich zu keinem Zeitpunkt. „Details, die zum Stopp führen, zählen zum Geschäftsgeheimnis“, sagt Aaron Kesselheim. Welche Informationen an die Öffentlichkeit gehen, werde dem betreffenden Pharmaunternehmen überlassen, sagt er und verweist auf eine Studie des „British Medical Journals“ aus dem Jahr 2015. Sie zeigt, dass die Unternehmensberichte oft wichtige Informationen der FDA weglassen, und so die Gründe des Stopps herunterspielen.
So kam erst kürzlich heraus, dass das Pharmaunternehmen Bial über die Dosis, die Molinet und sein Gruppe einnahm, entschied, ohne zu wissen, wie sich der Wirkstoff in Teilnehmern, die zuvor geringere Dosierungen eingenommen, tatsächlich verhalten hatten (Pharmakodynamik). „Das kommt praktisch einem Blindflug gleich“, sagte David Webb, Präsident der Britischen Pharmakologischen Gesellschaft dem Magazin „Nature“.
Auch Bial gab erst auf Druck nach
Wie viel Recht auf Geschäftsgeheimnisse darf es geben, wenn eine Studie tödliche Konsequenzen hat? Kesselheim sagt: „Wenn klinische Tests gestoppt werden, müssen die Details, die dazu führten, sofort freigegeben werden.“ Um all jene Patienten zu schützen, die an ähnlichen klinischen Studien teilnehmen wollen und um Forschern und Medizinern zu ermöglichen, ihre eigenen Test kritisch zu überprüfen. „Es geht auch um den Nachweis, dass die Maßnahmen der Aufsichtsbehörden die Öffentlichkeit schützen“, sagt Kesselheim. Nicht die Firmen.
Im Fall von Rennes wurden unmittelbar danach sämtliche Studien mit FAAH-Hemmern vorsorglich gestoppt. Doch auch Bial versteckte sich lange hinter Geschäftsgeheimnissen und gab erst auf Druck nach. Das könnte finanzielle Gründe haben. Rund 110 Millionen Euro soll sich Bial von der Europäischen Investment Bank für die Entwicklung neuer Wirkstoffe geliehen haben. Bei Juno verkaufte Geschäftsführer Hans Bishop bereits im Juli einen Teil seiner Aktienpakete für mehr als vier Millionen Dollar. Manch einer spekulierte danach, ob er selbst an seine These mit der Vorbehandlung geglaubt hat.
Experimentelle Mittel für alle?
In Frankreich haben die Vorfälle einiges bewegt: So wurde offensichtlich, dass jene Komitees, die die Probanden schützen sollten, nicht zwingend unabhängig waren. Industrievertreter waren in Frankreich als Mitglieder erlaubt, dazu gehörte auch ein führender Biotrial-Mitarbeiter. Zudem sollen die in anderen Ländern üblichen monatlichen Zwischenberichte über einzelne Testgruppen auch in Frankreich eingeführt werden. Unerwartete Vorfälle müssen der Arzneimittelkommission künftig unverzüglich gemeldet werden. Auch die Europäische Arzneimittelagentur arbeitet derzeit an neuen Vorgaben für klinische Studien, die einen Wirkstoff erstmals im Menschen testen. Sie sollen vor allem Kriterien für die zunehmend komplizierter aufgebauten Versuche und die für Dosierung der einzelnen Testgruppen schaffen. Zum Schutz der Probanden.
Amerika könnte den entgegengesetzten Weg einschlagen. „Wir sollten die FDA so umbauen, dass Medikamente dann zugelassen werden, wenn ihre Sicherheit belegt ist“, sagt Jim O’Neill, der Direktor des Venture Capitals Mithril Capital Management ist. Er soll unter der Trump-Regierung möglicherweise bald Chef der US-amerikanischen Arzneimittelaufsicht werden. Patienten können die Mittel dann nach den ersten Sicherheitstests nehmen. Auf eigenes Risiko.
Edda Grabar