Vorbereitungen zum 300. Geburtstag von Kant: Weltbürger mit festem Wohnsitz
Schon jetzt beginnen die Vorbereitungen zum 300. Geburtstag Immanuel Kants im Jahr 2024. Die Philosophie des Kosmopoliten aus Königsberg ist so aktuell wie lange nicht.
Für seine Zeitgenossen bedeutete Kants „Kritik der reinen Vernunft“ vor allem eines – eine komplette Überforderung. Das erste Werk, das den nachhaltigen Ruhm des Kosmopoliten aus Königsberg begründete, erschien 1781. Trotz seiner labyrinthischen Sprach- und Denkgebäude aber setzte es eine philosophische Revolution in Gang, die Kant selbst die „kopernikanische Wende“ nannte. „Die Kritik der reinen Vernunft“ ist der umfassende Versuch, die Wissenschaft auf eine solide Grundlage zu stellen. Ebensolche Gültigkeit haben viele seiner Werke bis heute – von der „Kritik der praktischen Vernunft“ bis „Zum ewigen Frieden“.
Laut Heine hatte Kant weder eine Geschichte noch ein Leben
Doch wie kann das Vermächtnis Kants heute so „erzählt“ werden, dass sein in acht Jahren fälliger 300. Geburtstag zu einem öffentlichkeitswirksamen Ereignis jenseits philosophisch bewanderter Expertenzirkel wird? Die seit Heine kolportierte These, es sei schwer, über Kants Lebensgeschichte etwas auszusagen, weil er weder eine Geschichte noch ein Leben gehabt habe, lässt sich zwar leicht beiseite- schieben. Doch sicherheitshalber haben Bundesregierung, zahlreiche Institute und kulturelle Einrichtungen, darunter auch internationale Partnerinnen, schon jetzt begonnen, das große Ereignis gedanklich vorzubereiten.
Den Auftakt zur Kant-Oktave, in der man den Geburtstag am 21. April 2024 und womöglich ein ganzes Kant-Jahr auf die Beine stellen will, machte jetzt eine Tagung in Berlin. Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Medien diskutierten unter anderem die Frage, inwiefern Kants Werk als Ideenschmiede im Hinblick auf die Lösung zeitgenössischer Probleme „gebraucht“ werden kann. Für den Philosophen und Kantforscher Volker Gerhardt ist die Sache klar: „Kants Republikanismus, die Idee einer globalen Friedensordnung, sein Konzept eines föderalen Zusammenwirkens aller Staaten – das sind große Vorhaben, die wir eigentlich noch nie so nötig hatten wie heute.“
Bei aller Provinzialität erstaunlich weltgewandt
Wie aber kann es gelingen, diese großen Projekte aus Kants Leben und Denken heraus zu veranschaulichen? Wie macht man die bahnbrechenden philosophischen Leistungen, mit denen er die okzidentale Philosophie renovierte, den Bürgern des 21. Jahrhunderts zugänglich? Anknüpfen ließe sich etwa bei Heines frecher These: Kant hat seine Heimatstadt tatsächlich nie verlassen, von fernen Weltbezirken hatte er bloß einen theoretischen Begriff. Und doch konzipierte er eine übergreifende Moral- und Rechtsphilosophie, die auch die Menschen jenseits der preußischen Außengrenzen im Visier hatte.
Das Paradoxe an Kant war, dass ihm bei aller Provinzialität doch ein erstaunliches Maß an Weltgewandtheit zukam. So war Kant ein mutiger Vertreter der Aufklärung, dem einzig die Moral als heilig galt, und ein glühender Anhänger der französischen Revolution. Sein zeitökonomisch durchgetakteter Alltag – bis heute gerne belächelt – war indes wohl eher strategischer Umgang mit der kränklichen Konstitution seines Körpers als internalisiertes Preußentum.
"Anschauungen ohne Begriffe sind blind"
Was Kant antrieb – und seitdem nicht nur Philosophen mitgerissen hat – war die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. In der „Kritik der reinen Vernunft“ wirft letztere ein Licht der Kritik auf sich selbst. Die Vernunft führt eine Reflexion über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und vergewissert sich zugleich ihres (beschränkten) Erkenntnisvermögens. Kant expliziert die Strukturen des Geistes, die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit: Allein in ihnen ist uns das Material der Sinnenwelt gegeben. Mit seinen apriorischen Kategorien und Begriffen verarbeitet und sortiert der Verstand alsdann das Empfangene.
Während die einander befehdenden Gruppen der Empiristen und der Rationalisten jeweils entweder die Sinne oder die Vernunft überbetont hatten, gelangte Kant zu seiner berühmten Formel des Mittelwegs: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Er führt aus, dass uns die Dinge niemals „an sich“ gegeben sind, sondern immer nur vermittelt durch unseren eigenen Erkenntnisapparat. Wir sind es, die der Welt unsere Weise der Wahrnehmung aufprägen. Die großen Fragen nach der Existenz Gottes, der unsterblichen Seele, der menschlichen Freiheit aber kann die theoretische Vernunft nicht widerspruchsfrei beantworten.
Kant traute der Vernunft zu, dem Willen ein Gesetz zu geben
Die Freiheit des Menschen wird nach Kant erst durch die praktische Vernunft offenbar, deren Funktionsweise er in seinen moraltheoretischen Schriften „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) erläutert. Der Mensch ist autonom, weil er nicht bloß wie ein Automat auf Einflüsse reagiert. Er ist vielmehr zu einer Selbstgesetzgebung im Handeln in der Lage. Ethisch gewendet heißt das, dass ein jeder, unabhängig von der eventuellen „Neigung“, seinem Nächsten den Schädel zu spalten, die Freiheit hat, sich für die vernunftgemäße „Pflicht“ zu entscheiden, dies nicht zu tun.
Kant traute der Vernunft zu, dem Willen ein Gesetz zu geben. Das individuelle Testverfahren, das er anführt, ist der kategorische Imperativ, mit dem jeder die Maxime seines Handelns dahingehend überprüfen soll, ob sie sich unbedingt verallgemeinern lassen. Moralisch gehandelt habe ich demnach dann, wenn ich wollen kann, dass jeder andere in meiner Situation genauso gehandelt hätte.
Völkerbund und UNO gründen auf seine Schrift "Zum ewigen Frieden"
Kants kritische Philosophie beförderte ein gewaltiges Erdbeben im Gefüge der abendländischen Geisteslandschaft. Und auch seine Ästhetik, die er in der dritten und letzten Kritik formuliert, sowie seine rechtsphilosophischen Konzeptionen zum Staatsbürger, Völker- und Weltbürgerrecht haben eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. Nicht zuletzt gründen der Völkerbund und auch dessen Nachfolgeorganisation, die UNO, durch Vermittlung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson explizit auf Kants später Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795).
Immanuel Kant hat die Welt des Geistes nachhaltig verändert. Auch die Philosophen, die ihn kritisierten, blieben ihm insofern verbunden, als sie die Verbindung von Philosophie und Kritik hochhielten, meint Volker Gerhardt. Keine Frage, „der Chinese aus Königsberg“, wie Nietzsche Kant einst abfällig nannte, ist umstritten. In einem Beitrag der „Zeit“ vom Dezember vergangenen Jahres, in dem sich ein knappes Dutzend Philosophen aus aller Herren Länder zu Kant und seiner Bedeutung für die Gegenwart äußerte, wurde er gleichermaßen gefeiert und zu Grabe getragen.
Kants Haltung zu Frauen "schlicht indiskutabel"
Auch auf der Berliner Kant-Tagung gab es bei aller Begeisterung und Vorfreude aufs Jubiläum durchaus kritische Stimmen. Der Kant-Forscher Marcus Willaschek betonte, Kants Haltung zu Frauen (und auch die zu Schwarzen und Juden, wie man hinzufügen muss) sei schlicht indiskutabel, Kant eigne sich bei aller Weisheit nicht als Projektionsfläche für fortschrittliches Denken.
Unstrittig lässt sich Kant in unterschiedlicher Weise interpretieren und auch für differente Positionen vereinnahmen. So erklärte Otfried Höffe in einem Tagungsworkshop, der kantische Hospitalitätsgedanke greife zwar dem Aslyrecht vor, rechtfertige aber kein dauerhaftes Bleiberecht derjenigen, „die an die Tür klopfen“. Auch wenn das für die Rechtsphilosophie zutreffen mag, lässt sich die kantische Ethik hingegen durchaus für ein Bleiberecht in Stellung bringen. So kann niemand ernsthaft wollen, dass es allgemeines Gesetz sei, Menschen in von Fassbomben verheerte Städte oder auch bloß in eine wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit zurückzuschicken.
Kant und die Flüchtlingsfrage
Die nach strikten Obergrenzen verlangende „Neigung“ zu xenophober Überfremdungsangst, welche die Moral in den Bereich der Zahlen verschiebt, verfehlt den kategorischen Imperativ auf ganzer Linie. Zwar ist es richtig, dass, wie Volker Gerhardt sagte, die Machbarkeit eine Grenze markiert, man also nach dem Sittengesetz nur das tun soll, was man auch vermag. Was genau man aber vermag, ist keinesfalls ausgemacht und also Verhandlungssache. Wer jedoch den Topos „Gefahr für die Demokratie“, etwa aufgrund einer antizipierten Stimmungskatastrophe, als Abschiebeargument anführt, hat dem kategorischen Imperativ aus Angst vor der Angst seine Geltung genommen.
"Der kritische Weg ist allein noch offen"
Bis zum Jubiläum bleibt viel zu diskutieren. Kant ist so aktuell wie lange nicht. Seine Ideen zum Föderalismus sollte man sich gerade in Zeiten, in denen die Europäische Union ins Wanken gerät, unbedingt vor Augen führen. Seine Erkenntnistheorie mit ihrer gut begründeten Agnostik liefert heute, da Geltungsansprüche auf barbarische Weise religiös legitimiert werden, ein kritisches Korrektiv.
Nicht zuletzt ist Kants Aufklärungsformel „Sapere aude“, derzufolge man den Mut haben soll, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, so wichtig wie nie. Heute, da sich immer mehr Menschen jenen Rattenfängern in die Arme werfen, die mit einfachen Antworten auf komplexe Problemlagen aufwarten, ist eine „Demokratisierung der Vernunft“ (Höffe), ein Selber-Denken der Einzelnen, unbedingt geboten. Kant hat recht behalten: „Der kritische Weg ist allein noch offen.“