Bettina Stangneth: Böses Denken: Der Mensch ist böse
Die Philosophin Bettina Stangneth plädiert für eine Aufklärung ohne Illusionen. Eine Rezension.
Ausflüchte gibt es immer. So kann sich selbst der verbrecherische Funktionär eines mörderischen Regimes vor Gericht als Opfer präsentieren. Verführt sei er worden, behauptet er womöglich, und gedankenlos gewesen. Befehle habe er ausführen müssen, als Teil einer undurchschaubaren Bürokratie. Überhaupt sei er in Armut und Ablehnung aufgewachsen, womit er eine relativierende Nachsicht beansprucht: „Jeder hat eben auf seine Weise recht.“
All das hatte Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht unternommen. Geschickt manövrierte er um die Frage seiner Verantwortung herum. Er appellierte an die Zivilisierten im Saal, mit deren Maßstäben er durchaus vertraut war. „Auch Mörder können denken“, konstatiert Bettina Stangneth, die sich mit Eichmann befasst hat wie kaum jemand seit Hannah Arendt. Stangneths 2011 erschienenes Buch „Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders“ erfuhr internationale Resonanz bis hin zur „New York Times“.
Sowohl wissenschaftlich als auch in der Selbstzumutung der Konfrontation mit dem Material, gilt Stangneths Studie zu Recht als enorme Leistung. Akribisch hatte sich die 1966 geborene Hamburger Philosophin in die Masse der Dokumente aus Eichmanns Jahren im Exil eingearbeitet. Sie lieferte damit erstmals den zweifelsfreien Nachweis, dass diesem Mann haargenau bewusst war, was er „aus Überzeugung“ getan und gewollt hatte.
„Schwarzer Idealismus“ nennt Bettina Stangneth solche Überzeugungen in ihrem jüngsten Buch „Böses Denken“. Konzipiert als Essay in vier Teilen, entwickelt sie das Plädoyer für eine ethikbasierte, faktengeleitete Vernunft, die mit den Entwicklungen des 21. Jahrhunderts Schritt hält. Auf eine Frage kommt es ihr besonders an: Was ist gut, was ist böse? Eine Frage, die verloren gegangen sei, irgendwo zwischen psychologischen Relativierungen, ökonomischen Sachzwängen, wissenschaftlicher Bedenkenlosigkeit und dem disparaten „Nebeneinander der Monologe“ in den sozialen Netzwerken, „dieser Aufkündigung jeden Gesprächs“ zwischen Verschwörungstheorien, Mobbing und Hetze.
„Wer über das Böse spricht, der warnt“, schreibt Stangneth. Dahinter erhebt sich die Frage nach der Wirksamkeit der Aufklärung. Die NS-Täter „hatten die Menschheit verraten“, so Stangneth, indem sie, wie Himmler in Posen von „Anstand“ redend, pervertierte Gebote erließen: „Du sollst töten.“ Wie hat sich „das Böse“ seit Heideggers „Ringen um arteigene Weltanschauung“ und dem Mitläuferheer der Anpassungswilligen, das Arendt sah, verändert? In welchen „Denkungsarten“ – ein häufig von Stangneth verwendeter Begriff – hält es sich auf?
Menschen morden und lügen
Ertragen muss das kaum zu bewältigende Thema Genozid jeder, ob als Staatsanwalt oder als Autor, der sich ihm einmal intensiv gewidmet hat. Das prägt die Weltsicht. Es ist kein Wunder, wenn Stangneth ihre Überlegungen unter Bezug auf ein spätes Diktum von Kant beginnt. „Die Menschen sind eine böse Spezies“, lautet es bei ihr. Sie morden. Sie lügen. Als Touristen bereisen sie die fremde Ferne, verdammen aber den nahen Fremden.
Stangneth zeichnet die große Hoffnung der Aufklärung nach, durch mündiges Denken komme das Individuum zu sich selber und zur Moral. „Selberdenken“, hatte es geheißen, sei der Schlüssel zur universalen Vernunft, zum herrschaftsfreien Diskurs, zum kommunikativen Handeln für das gemeinsame Wohl. Seit der Antike setzen Philosophen auf das menschheitliche Potenzial, das eigene Denken zu beobachten und dadurch zu vernünftigen Schlüssen zu gelangen. Dem stellt die desillusionierte Zeitgenossin angesichts raffiniert denkender Mörder ihre Skepsis entgegen und ihre Forderung (oder Ankündigung?) einer „Kritik der dialogischen Vernunft“ – im Dialog mit erschütternden Fakten. Denn „Philosophie in unserem Jahrhundert“, sagt sie, das „ist Aufklärung ohne den Glauben an die Unschuld des Denkens.“
„Jeder hat eben auf seine Weise recht“: Abwandlungen dieser grauenhaften und trickreichen Eichmann-Ausflucht findet Stangneth in der postmodernen Beliebigkeit der Weltdeutungen, in den Ressentiments aktueller Xenophobie und im Geschrei nach einem starken, sich abschottenden Staat auf ähnlich bedrohliche Weise am Werk.
Selberdenken ist auch bei den Selbstoptimierern gefragt
Denken allein aber genügt nicht. Auch das heute oft idealisierte, von Wissensfragmenten und Meinungsbrocken im Internet befeuerte „autonome“ Denken nicht, das „Selberdenken“, das leicht ultrakonsequent wird und sich von den Fakten entfernt, wie bei den Fitness und Karriere suchenden „Selbstoptimierern“, die Stangneth nicht weit entfernt von Selbstmordattentätern sieht: beide aufs Selbst, aufs Ich fixiert. Denken allein genügt nicht, nein, es braucht vernünftiges Denken. Vernünftiges Denken allerdings allein reicht auch noch nirgends hin, solange es nicht zugleich ethisches und informiertes Denken ist.
Um der Schwere ihres Sujets leichtere Lesbarkeit zu verschaffen, streut Stangneth in ihren Text Vergleiche mit Alltagsszenen ein, und spricht, wie als Vortragende, die das Publikum wachhält, hin und wieder die Lesenden siezend an. Nun kommen Sie schon zu sich, scheint sie zu meinen, und kommen Sie zur Philosophie! Es gibt hier etwas zu gewinnen!
So ist es auch. Unüberhörbar allerdings ist eine Skepsis gegenüber den Wissenschaften, mit denen sich der interdisziplinäre Dialog für sie doch so lohnen würde: Soziologie, Pädagogik, Psychologie und Psychoanalyse. Obwohl sie nicht frontal angegangen werden, enthüllen die wenigen Anspielungen auf diese Nachbarn Stangneths Befürchtung, Thesen zu sozialen Milieus oder zu Freuds Unbewusstem könnten als Teil einer Strategie der „Generalabsolution“ verwendet werden, für die Moral und Vernunft sekundär bis irrelevant ist, da es primär um Verstehen, Herleiten, Einfühlen gehe.
Stangneth übersieht, dass weder Freud noch dessen akademische Nachkommen Moral verwerfen, wenn sie Ursachen für Handlungen suchen, und dabei Träume, Fantasien, Traumata von Individuen oder Gruppen konsultieren. Im Gegenteil. Taten, Worte, Gedanken, die als „das Böse“ kategorisiert werden können, werden durch analytisches Betrachten nicht „gut“ oder „relativ“, sondern ein Blick mit höherer Komplexität liefert präventiver Politik wie Pädagogik entscheidende Informationen. Stangneth fehlt die Geduld mit derlei Deutungen, die ja in der Vergangenheit mitunter das Tolerierbare überstiegen haben.
Der Folterer belauert die Psyche seines Gegenübers
Mit der Ungeduld aber kommt es zu Irrtümern, etwa Bettina Stangneths wiederholtem Entsetzen über die unheimlichen Fähigkeiten raffinierter Folterer. „Empathie ist die notwendige Bedingung des Sadismus“, schreibt sie. Doch nicht Empathie arbeitet im Folterer, sondern eine auch für Psychopathen, gerade Sadisten, typische Mischung aus hyperwacher Paranoia und einem früh erlernten, kognitiv erntenden Belauern der Psyche des Gegenübers. Bis zu einem gewissen Grad haben das auch Verkäufer oder Personalchefs. Mit Einfühlung, Altruismus, Güte, also mit wirksamer, tiefer Empathie, hat das nichts gemein. Und das ist weniger bedrohlich als tröstlich.
Stangneths an Kant geschulte Moral kommt für die Gegenwart mit ihrer „um die Digitalisierung erweiterten Realität“ dann auch nicht um Andeutungen zu einer pädagogischen Praxis herum. „Ohne Erfahrungen in der Unterscheidung zwischen Fiktionen und Fakten und ohne Übung mit Kompromisstechniken, noch in den größten Kontroversen, wird es nicht gehen“, räumt sie ein.
Konfliktlösungen findet man nicht ohne ein Minimum an Verstehen psychologischer Begriffe, etwa Projektion oder Narzissmus. Eine reine Vernunft, ohne das Einbeziehen des Anderen, des Unbewussten, kann es beim heutigen Stand der Aufklärung nicht mehr geben. Hier begibt sich Stangneth wichtiger Verknüpfungen. Wer sich aber ein paar Tage in den Dialog mit Stangneths Buch begibt, den wird es in jedem Fall bewegen, zu Anerkennung, Zuspruch, Einspruch – zu dem, was sich die Philosophin wünscht, zum Nachdenken.
Bettina Stangneth: Böses Denken. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 254 Seiten, 19,95 €.
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