Leibniz-Preis für Beatrice Gründler: Weisheiten aus der Kalifenzeit
Beatrice Gründler, Berliner Arabistin und Leibnizpreis-Trägerin 2017, rekonstruiert eine arabische Fabelsammlung – und den Kulturtransfer nach Europa.
„Das ist so ein Getüftel“, sagt Beatrice Gründler und klingt dabei ganz und gar nicht unglücklich. Die Berliner Arabistik-Professorin sitzt in einer Fensternische ihres Lieblingscafés am Gendarmenmarkt, auf den Knien einen Stapel Fotokopien mit arabischer Schrift in mehreren Spalten. Sie setzt eine Wellenlinie unter einem Satz, malt einen Kringel um ein Wort, zeichnet hin und her verweisende Pfeile ein, schreibt Randbemerkungen.
Wenn sie sich so in die Dechiffrierung alter Manuskripte versenkt, fühlt Gründler sich den Schreibern in Bagdads Bibliotheken der Kalifenzeit sehr nahe, sagt sie. „Aus dem Duktus und der Orthografie ihrer Schrift kann ich auf die lokale Herkunft der Kopisten und auf ihren Bildungsstand schließen.“
Studien zur Vielstimmigkeit der arabischen Poesie und Kultur
Die Arabistin steckt damit schon mitten in ihrem großen Projekt an der Freien Universität, das sie jetzt mit dem Leibniz-Preis 2017 der Deutschen Forschungsgemeinschaft realisieren will – der weltweit ersten wissenschaftlichen Online-Edition der Fabelsammlung „Kalila und Dimna“. Geehrt wird die 52-Jährige für ihre „Studien zur Vielstimmigkeit der arabischen Poesie und Kultur“, wie die DFG im Dezember bekannt gab.
Von Yale an die Freie Universität Berlin
Diese Vielstimmigkeit, „die Möglichkeit, sich mit den 28 Buchstaben des arabischen Alphabets einen riesigen Kulturraum zu erschließen“, hat sie schon als Schülerin fasziniert. Nach dem Abitur in Kehl am Rhein studierte Gründler die Sprache und Literatur der arabischen Welt in Straßburg, in Tübingen und in Harvard, wo sie promoviert wurde. Sie war Assistenzprofessorin am Dartmouth College in New Hampshire und schließlich ordentliche Professorin in Yale, bevor sie 2014 an die FU kam. Im wissenschaftlichen Gepäck hatte sie unter anderem Studien zu den frühislamischen Schriften und eine Mediengeschichte der arabischen Welt.
"Intelligenz ist wie das Meer: unergründlich in seiner Tiefe"
Den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis will sie für nichts weniger nutzen, als den frühesten säkularen Text der arabischen Literatur ins Gedächtnis der europäischen Kulturgeschichte zurückzuholen. „Im europäischen Mittelalter gehörte ,Kalila und Dimna‘ zur gängigen Weisheitsliteratur“, sagt Gründler. Die lehrreichen Botschaften der Fabelsammlung hätten den ersten arabischen Rezipienten in der Zeit um das Jahr 750 wohl ebenso wie den zahllosen Lesern seit den ersten europäischen Übersetzungen ins Griechische, Spanische, Lateinische und alsbald in fast alle modernen Sprachen des Kontinents eingeleuchtet. Ein Beispiel: „Intelligenz ist wie das Meer: unergründlich in seiner Tiefe.“
Ab 1483 werden die Fabeln auf der Gutenbergpresse gedruckt
In Deutschland wurden sie erstmals 1483 als „Buch der Beispiele der alten Weisen“ auf der Gutenbergpresse gedruckt, nur wenige Jahrzehnte nach der Bibel – und sollen sich fast ebenso weit verbreitet haben. Diese „Geschichte der Aneignung“ von im Ursprung indischen Sanskrit-Quellen aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. ist nur einer von vielen Strängen, die Gründler zusammenführen will.
Die Fabelsammlung wird als Unterweisung künftiger Herrscher in der Kunst des Regierens erzählt. In der durch die Zeiten, Sprachen und Kulturen abgewandelten Rahmenhandlung dieses Fürstenspiegels erläutert ein weiser Mann – sei es ein Brahmane oder ein Philosoph – einem Prinzen oder unerfahrenen Herrscher, „wie man Freunde und Feinde am eigenen Hof oder im Land erkennt, wie sich wahre von taktischen Freundschaften unterscheiden, wie man Intrigen erkennt, Spione aussendet, seine Intelligenz schult und ethisch handelt“, erklärt Gründler.
Folkloristische Erbauungsliteratur für das Volk
Transportiert werden diese Lehren zumeist durch Tiergeschichten, in denen menschlich handelnde Hyänen, Löwen, Raben, Mäuse oder Schlangen potenzielle Herausforderungen im Leben eines Herrschers symbolisch durchleiden. In der Pointe bietet die Fabel einen Lösungsweg oder Lehrsatz dafür an. Über die Jahrhunderte wandelten sich auch die Adressaten der Texte: Von den Kalifen-Azubis über Höflinge und hochgestellte Bürger wurden sie quasi heruntergereicht ins Volk, das sie als folkloristische Erbauungsliteratur konsumierte.
Gut tausend Jahre hielt sich die Fabelsammlung in vielen Ländern vom Orient bis zum Okzident als populäres Hausbuch. Im Nahen Ostens sei sie noch heute als Kinderbuch verbreitet, doch in Europa weitgehend vergessen, sagt Gründler. „Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Weisheitsliteratur nicht mehr breit rezipiert.“ Die Fabelform war den Lesern mittlerweile zu holzschnittartig, ihre Funktion übernahm etwa der Bildungsroman.
Erhalten sind rund 100 arabische Manuskripte und Fragmente
Die Rekonstruktionsarbeit der Arabistin setzt bei den frühesten erhaltenen Manuskripten an – und schon da wird es überaus komplex. Die Sanskrit-Quellen und die mittelpersische Fassung aus der Zeit um 550 n. Chr. sind nur in späteren Versionen oder Übersetzungen bekannt. Und auch die erste Übertragung ins Arabische durch den Übersetzer und Autor Ibn al-Muqaffa’ aus Basra hat sich nicht in Papierform erhalten. Doch von den Abschriften, die Kopisten von diesem legendären ersten literarischen Meisterwerk der arabischen Literatur ab dem 13. Jahrhundert anfertigten, existieren rund 100 Manuskripte und Fragmente.
Ob in ihrem Lieblingscafé, im Arbeitszimmer an der FU oder auf dem heimischen Charlottenburger Sofa: Gründler geht alle 100 Quellen Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort durch, versucht „Familien“ zu bilden, die in zeitlicher und räumlicher Nähe geschaffen worden sein könnten. Dass es nicht die eine gesicherte Quelle und eine meistgültige Version gibt, auf die sich die Forschung einigen könnte, hat bislang auch eine kritische Edition von „Kalila und Dimna“ verhindert.
Mit den Mitteln der Digital Humanities
Vor Gründler hat nur der Orientalist Martin Sprengling einen Versuch mit damals bekannten Manuskripten unternommen. In den 1920er Jahren am Oriental Institut in Chicago scheiterte er noch an der schieren Masse der Versionen. Sie könnten erst heute mit den Mitteln der Digital Humanities dargestellt werden, sagt Gründler. In ihrer Online-Edition will sie „repräsentative Versionen“ textkritisch, philologisch und sozialhistorisch kommentieren. Digitale Werkzeuge ermöglichten es dabei, die Metamorphosen des Werks und seine facettenreiche Simultanität ohne Auslassungen oder Vereinfachungen nachvollziehbar zu machen.
Konzipiert hat Gründler die Edition ursprünglich als E-Learning-Projekt für Arabistik-Studierende, die mit dem packenden Material der kulturenübergreifenden Fabelsammlung für die sprachwissenschaftliche und philologische Quellenarbeit begeistert werden sollen. Mit dem Leibniz-Preisgeld kann sie das Vorhaben nun ausbauen, etwa indem sie ein erweitertes Team von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Doktoranden beschäftigt und Spezialisten mit der Synchronisierung arabischer und lateinischer Schriftsätze beauftragt.
Wer weiß schon von der arabischen Buchrevolution des 8. Jahrhunderts?
Gründler will auch eine Neuübersetzung ins Deutsche beauftragen, um die Fabelsammlung dem Vergessen zu entreißen. Außerdem plant sie, zahlreichen weiteren Werken der Weisheitsliteratur nachzugehen, die ebenfalls durch das Arabische von Indien oder Persien nach Europa gelangten.
Ein Hausbuch, das in keinem Bücherschrank fehlen darf, wird aus der Neuübersetzung von „Kalila und Dimna“ wohl nicht mehr werden. Doch Gründler will zumindest einen Beitrag dazu leisten, das Wissen über dieses zentrale Werk der arabischen Literatur, die Zeit, in der es entstanden ist, und die späteren Jahrhunderte, in denen es fortlaufend umgeschrieben wurde, wieder präsenter zu machen. Wer wisse schon von der „arabischen Buchrevolution“ des 8. Jahrhunderts, die Bildungsaufsteigern durch die neuen Berufe des Schreibers und des unabhängigen Buchautors zu sozialer Mobilität verhalf?
Ein lebendiges historisches Bewusstsein der literarischen Tradition
Wenig bekannt sei auch, dass die Menschen in Ägypten oder im Libanon bis heute oft mehr Sinn für Literatur haben als der normale Europäer. Sentenzen von Autoren, die in der Entstehungszeit der „Kalila und Dimna“-Manuskripte lebten, seien vielen geläufig. „Es gibt ein lebendiges historisches Bewusstsein von der arabischen literarischen Tradition“, sagt Gründler. „Wir müssen unser Halb- oder Falschwissen vom Nahen Osten auffüllen und abgleichen mit dem gesamten historischen Kontext, den wir nicht in der Schule lernen und von dem wir nichts in den Nachrichten hören.“