Wissenschaftsgeschichte: Berliner Forscher will die Alchemie rehabilitieren
Die Alchemie gilt als Pseudo-Wissenschaft. Der Berliner Wissenschaftshistoriker Matteo Martelli tritt jetzt zu ihrer Ehrenrettung an.
Wenn Matteo Martelli von antiker Alchemie erzählt, fangen seine Augen zu glänzen an. Etwa zwanzig Jahre ist es her, dass sich der Wissenschaftshistoriker und Altphilologe in einer kleinen Buchhandlung in Bologna in jene traditionsreiche Disziplin verliebte. Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert geriet sie in Verruf und fristet seither – als Pseudo-Wissenschaft etikettiert – ein Schattendasein in esoterischen und popkulturellen Nischen.
Ein Paradigmenwechsel führte seinerzeit zu einer fundamentalen Neuorganisation des Wissens: Die Alchemie wurde aus dem Kanon okzidentaler Lehrmeinungen ausgeschieden und verfiel dem Spott der wissenschaftlichen Autoritäten. Heute erinnert das Wort Alchemie an mittelalterliche Obskuranten, die in spärlich ausgeleuchteten Werkstätten an der fixen Idee laborieren, niedere Metalle in Gold zu verwandeln.
Eine Art Chemie mit anderen Mitteln
Der Alchemie-Experte Matteo Martelli verwehrt sich aufs heftigste gegen das aus seiner Sicht kulturarrogante und anachronistische Label einer unechten Wissenschaft. Das, was wir heute Alchemie nennen, sei vielmehr eine Art Chemie mit anderen Mitteln gewesen – mit jenen eben, die man in früheren Zeiten zur Verfügung hatte. So habe man unter anderem untersucht, wie bestimmte Stoffe miteinander reagieren und auf welche Weise sie ihre Beschaffenheit ändern. Keineswegs sei es ausschließlich um die nach heutigem Wissensstand (abseits kernphysikalischer Verfahren) unmögliche Herstellung von Gold gegangen.
Sie versuchten ihre Theorien durch Experimente zu verifizieren
„Im Grunde betrieben die Alchemisten Wissenschaft par excellence, sie stellten Theorien auf und versuchten sie durch Experimente zu verifizieren“, sagt Martelli. Darüber hinaus hätten die alchemistischen Theorien und Praktiken vielfach Eingang in die moderne Wissenschaft gefunden. Die Chemie, als jene Disziplin, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von Stoffen beschäftigt, gründe auf einem reichen Erbe, das man in der Moderne lange Zeit zu Unrecht diffamiert und kleingeredet habe. Insofern ist es Martellis Anliegen, die jahrtausendealte alchemistische Tradition wissenschaftshistorisch zu rehabilitieren und ihr in der bewegten Geschichte des Forschens jenen Platz zu verschaffen, der ihr gebührt.
Martelli will Versuche der Alchemisten im Labor nachstellen
Damit kann der 1975 geborene Forscher, der in einem kleinen Ort in der Nähe von Rimini aufwuchs, jetzt loslegen. Der seit fünf Jahren in Berlin lebende Italiener hat für sein Alchemie-Projekt an der Humboldt-Universität beim Europäischen Forschungsrat (ERC) soeben zwei Millionen Euro eingeworben. Von 2017 bis 2022 will das transdisziplinäre Team um Martelli nun knapp 2500 Jahre alchemistischer Überlieferung auswerten. Vom antiken Babylonien über das griechisch-römische Ägypten bis in die arabische Welt, die dem Okzident wiederum jene Tradition vermacht hat, die wir – mit Blick aufs Mittelalter – heute als Alchemie bezeichnen.
Altphilologen und Wissenschaftshistoriker, Gräzisten, Arabisten und Chemiker sind unter Martellis Ägide an dem Projekt „Alchemy in the Making“ beteiligt. So soll ein Teil der Forschungsarbeit darin bestehen, die überlieferten Experimente in modernen Laboratorien nachzustellen, um dem antiken Ineinander von Theorie und Praxis auf die Spur zu kommen.
"Wir werden nicht versuchen, Gold zu produzieren"
Mit derlei Methoden hat Martelli bereits Erfahrung. So sei es unter anderem schon gelungen, die Farbe eines Metalls nach uralten Anleitungen so zu verändern, dass es beinahe ausgesehen habe wie Gold. „Gemeinhin wird die Alchemie als etwas betrachtet, das schlicht nicht funktioniert“, sagt der Forscher. Gemeinsam mit seinem Team werde er nun „selbstredend nicht versuchen, im Rekurs auf antike Manuskripte Gold zu produzieren“. Es gehe vielmehr darum, die Alchemie von ihrem pseudowissenschaftlichen Leumund zu befreien.
„Wenn ein antiker Chemiker die Farbe eines Gegenstandes verändert hatte, so meinte er, auf der Basis des seinerzeit gültigen Wissenstandes, den Gegenstand als solchen verändert zu haben“, erklärt Martelli. Die Forscher arbeiteten wie in allen Epochen auf der Grundlage ihres zeitspezifischen Erkenntnishorizonts; innerhalb des in der Antike vorherrschenden Paradigmas war es also gleichsam „richtig“, davon auszugehen, dass man mit einer Farbveränderung Gold hervorbringt.
Arabische Tradition brachte die eigentliche Alchemie ins Abendland
Ein weiterer Fokus des Projektes soll auf Herkunft und Verbreitung der Quellen liegen. So wollen Martelli und sein Team die Überlieferungsketten alchemistischer Texte schließen, in denen zum Teil noch erhebliche Lücken klaffen. Was man anhand vergleichender Lektüren bereits sagen kann, ist, dass es in der Antike einen regen Austausch gab. So seien Spuren der babylonischen Tradition im graeco-römischen Ägypten zu finden. Manuskripte von dort seien wiederum ins Syrische – eine späte Form des Aramäischen – und weiter ins Arabische übersetzt worden.
Die arabische Tradition war es, die dann die eigentliche Alchemie im Abendland initiiert hat. Denn mit der Übertragung der arabischen Texte ins Lateinische wurde erst jene mittelalterliche Tätigkeit ins Werk gesetzt, an die der Laie heute denkt, wenn es um Alchemie, den Stein der Weisen oder Transmutation geht.
Alchemisten übersetzen und ergänzten die Manuskripte
„Natürlich sind die Texte durch die Jahrtausende hindurch nicht einfach kopiert und damit deckungsgleich von einer Kultur in die nächste vermittelt worden“, sagt Martelli. „Häufig haben Alchemisten selbst die Texte anderer Alchemisten übersetzt und ihre eigenen praktischen Erfahrungen in die Manuskripte einfließen lassen.“
In der alchemistischen Tradition sind Theorie und Praxis reziprok aufeinander bezogen. Die überlieferten Theorien aus einem Teil der Welt gaben den Praktiken in einem anderen Teil häufig neue Impulse. Die aktualisierten Praktiken wiederum erneuerten die alten Theorien, deren Update dann spätere Generationen in anderen Weltgegenden zur fortgesetzten Forschung inspirierte.
Moderne Chemie ohne "multikulturelle" Alchemie nicht denkbar
Noch häufiger jedoch als in Philosophie und Medizin seien im Bereich der Alchemie die griechischen Quellen verloren gegangen. Nur durch Vermittlung orientalischer Gelehrter, durch die Konservierung im Arabischen, sei dem Okzident ein wesentlicher Teil seiner eigenen Wissenschaftsgeschichte erhalten geblieben, sagt Martelli – nuanciert und erweitert durch die Erfahrungen und Erkenntnisse der Kulturen des mittleren Ostens. Ohne das sogenannte Morgenland wäre die Alchemie im sogenannten Abendland also niemals angelangt.
Dass sich wiederum die Chemie in der heute bekannten Form kaum ohne die „multikulturelle“ Alchemie hätte entwickeln können, führt das heute häufig bemühte Narrativ von getrennten und hermetischen „Kulturkreisen“ endgültig ad absurdum. Die Wissenschaften Europas sind mit denen des arabischen Raums auf komplexe Weise verwoben. Vieles, worauf jene Kultur, die man heute als westlich bezeichnet, ihre Identität gründet, ist durch die islamisch geprägte Wissenstradition vermittelt und umgekehrt.
Der arabische Raum gehört zur "westlichen Tradition"
„Orient und Okzident sind im Grunde rein politische Begriffe“, sagt Martelli. „Wenn ich von der westlichen Tradition spreche, gehört der arabische Raum für mich dazu.“ Wissenschaftshistorisch sei es wenig sinnvoll, den Westen und den mittleren Osten als getrennte Sphären zu begreifen. Damit sieht Martelli in seiner Forschung auch einen Beitrag gegen das unter Kulturessentialisten verbreitete Narrativ vom „Eigenen“ und „Fremden“.