Digital Humanities: Der digitale Geist erwacht
Geisteswissenschaften und Informatik rücken weltweit enger zusammen. Auch in Berlin gibt es schon enge Netzwerke, aber Studiengänge und Professuren fehlen noch.
Ab den frühen 1960er Jahre gingen in Deutschland Atomkraftwerke ans Netz, das ist bekannt. Aber ab wann genau haben sich Parteiprogramme mit dem Thema Atomausstieg beschäftigt? Bislang war es mit einigen Mühen verbunden, darauf eine Antwort zu finden. Dank der Datenbank „The Manifesto Corpus“ (https://manifestoproject.wzb.eu), die Wahlprogramme aus aller Welt seit 1945 versammelt, ist es nur noch eine Sache von wenigen Minuten: Land und Stichwort in die Suchmaske eingeben, schon spuckt die Webseite eine Ergebnislisten mit Originalformulierungen aus. Eine Fundgrube für Soziologen, Politologen oder interessierte Laien. Denn die Datenbank, die von einem Team am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung konstruiert wurde, ist frei und kostenlos zugänglich. Der Interdisziplinäre Forschungsverbund Digital Humanities in Berlin (ifDHb) fand das so überzeugend, dass er das Projekt jetzt mit dem „Berliner Digital Humanities Preis 2016“ ausgezeichnet hat.
Die Zusammenarbeit ist in vollem Gange
Wer geisteswissenschaftlich forscht, kommt an digitalen Werkzeugen kaum noch vorbei. Textverarbeitungsprogramme, Datenbanken, Online-Archive, digitale Editionen – überall steckt angewandte Informatik mit drin. Die Zusammenarbeit der Disziplinen ist fruchtbar und in vollem Gange. Vorreiter waren schon vor Jahrzehnten Linguistik und Archäologie, die früh digital und datenbasiert gearbeitet haben. Die nächsten, die sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen wollten und mussten, waren Akademien, Bibliotheken, Archive. Wo immer es um große Quellensammlungen oder die Langzeitspeicherung von Wissen geht, traten Fragen der digitalen Erfassung in den Vordergrund.
Mittlerweile sickert die computergestützte Forschung auch in die Literaturwissenschaft, die Musikwissenschaft, die Geschichtswissenschaft ein. Digitale Archive und Editionen ziehen neue Fragestellungen nach sich. Vor allem quantitative Methoden boomen, denn Algorithmen helfen Wissenschaftlern beim Sortieren und Auswerten von riesigen Datenmengen.
Für Berlin ist die Bilanz ist durchwachsen
Doch wo steht Berlin bei all diesen Veränderungen, wie hat sich der Wissenschaftsstandort in den letzten Jahren im Bereich Digital Humanities positioniert? Die Bilanz ist durchwachsen: In den geisteswissenschaftlichen Bachelor- und Masterstudiengänge der Hauptstadt schlägt sich der ‚digital turn’ bislang kaum nieder. Lehrangebote sind rar. „Wer sich als Historiker oder Germanistin in Richtung Statistik oder angewandte Informatik fortbilden will, muss das auf eigene Faust tun“, sagt Anne Baillot, Jurymitglied beim ifDHb und Koordinatorin des Berliner „digital humanist“-Netzwerks (www.digital-humanities-berlin.de/). Die Datenbank des ifDHb, die fächerübergreifend Digital Humanities-Lehrveranstaltungen auflistet, ist immerhin eine kleine Hilfe (www.ifdhberlin.de/lehre/dh-lehrveranstaltungen-in-der-region/).
Es ist nicht so, dass die hiesigen Geisteswissenschaftler den Trend verschlafen haben. „An Kooperationen und informellem Austausch mangelt es in Berlin nicht“, betont Baillot. Nur der nächste Schritt, die Institutionalisierung und Verankerung in den Studiengängen, kommt nicht recht voran.
Trier, Göttingen, Köln und Würzburg: Hier spielt die Musik
Dabei gibt es viele ambitionierte Projekte im Großraum Berlin, 63 hat der ifDHb in den letzten Jahren identifizieren können. In dem in Kürze erscheinenden Buch „Berliner Beiträge zu den Digital Humanities“ findet Baillot in ihrem Vorwort dennoch deutliche Worte: Die Fülle könne nicht darüber hinwegtäuschen, „dass es der Hauptstadt und ihren Einrichtungen nicht gelungen ist, eine nationale Förderung für ein wie auch immer geartetes Digital-Humanities-Zentrum zu ergattern“. Die innovativen Standorte, an denen die Entwicklung digitaler Infrastrukturen und neuer Tools vorangetrieben wird, heißen immer noch Trier, Göttingen, Köln und Würzburg. Dorthin wenden sich auch Berliner Forscher, wenn sie spezielle Softwarelösungen oder Unterstützung bei der Umsetzung von Datenbanken brauchen.
Nicht nur die Forschungszentren treiben die Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaften und Informatik voran. Auch kombinierte Studiengänge leisten Pionierarbeit. In Mainz zum Beispiel können ab kommendem Wintersemester 24 Bachelor-Absolventen in einem hochschulübergreifenden Studiengang erstmals einen Master im Fach „Digitale Methodik in den Geistes- und Literaturwissenschaften“ erwerben. Das Besondere: Die Studenten kommen sowohl aus geisteswissenschaftlichen Fächern als auch aus der Informatik. Nun sollen sie die Perspektive des jeweils anderen Fachbereichs kennenlernen. „Die Geisteswissenschaftler erfahren, was eigentlich ein Algorithmus ist, nämlich das Lösen eines Problems in endlichen Schritten“, erklärt Studiengangsleiter Kai-Christian Bruhn. Die Informatiker betreten Neuland, wenn sie sich über Hypothesen, Interpretationen und Lesarten Gedanken machen.
Geisteswissenschaftler sollen nicht programmieren lernen
Die Studierenden können in unterschiedliche Anwendungsgebiete der Digital Humanities hinein schnuppern: von maschineller Übersetzung über Geoinformatik im Dienste der Archäologie bis hin zu digitaler Musikeditorik. „Es geht nicht darum, als Geisteswissenschaftler perfekt programmieren zu lernen“, sagt Bruhn. Eher darum, kompetent mit Digitalität umzugehen. Das wiederum wird den Absolventen auf dem Arbeitsmarkt einen enormen Vorteil verschaffen. „Geisteswissenschaftler mit Informatikkompetenzen sind gefragte Problemlöser“, meint Bruhn. Die Erfahrung zeige: Wer den Brückenschlag beherrscht, muss sich um seinen künftigen Arbeitsplatz wenig Sorgen machen. Die Studierenden sehen das offenbar ähnlich: Schon Monate vor Semesterbeginn sind für das neue Mainzer Masterstudium mehr Bewerbungen eingegangen als Plätze zur Verfügung stehen.
In Berlin muss sich der geisteswissenschaftliche Nachwuchs weiter gedulden. Möglicherweise nicht mehr allzu lange. Demnächst wird es mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest eine erste Professur für Digital Humanities in der Hauptstadt geben. So ist es jedenfalls in der 10-Punkte Agenda angedeutet (http://be-digital.berlin/) , die der Regierende Bürgermeister Michael Müller zusammen mit dem Präsident der Technischen Universität (TU) Christian Thomsen vor einem halben Jahr vorgestellt hat.
Berlin bekommt 50 IT-Professuren - wird es auch eine in den Geisteswissenschaften geben?
Von 30 neuen IT-Professuren für Berlin war in der Agenda die Rede. Die Finanzierung der Lehrstühle, die über alle Universitäten verteilt werden, soll in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft gestemmt werden. Die Sponsorenakquise lief offenbar schneller und erfolgreicher als erwartet. Mittlerweile rechnet der TU-Präsident damit, dass sogar knapp 50 neue Lehrstühle entstehen könnten. „Das Projekt hat sich in erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelt“, sagt Thomsen. Ob von dem Finanzierungserfolg auch die Geisteswissenschaften profitieren werden, will er noch nicht verraten. Derzeit liegt das gesamte Professoren-Paket zur Begutachtung bei der Einstein Stiftung. Im Spätsommer soll es der Öffentlichkeit präsentiert werden.