Streit um Qualität von Schulabschlüssen: Was das Berliner Abitur wert ist
Gibt es in Berlin und anderen Ländern eine „Noten-Inflation“? Der Chef des Lehrerverbands fordert „anspruchsvolle“ Länder auf, nicht mehr jedes Abitur anzuerkennen.
In mehreren Bundesländern gibt es beim Abitur eine Noten-Inflation – das behauptet Josef Kraus, der Chef des Deutschen Lehrerverbands. Die Noten würden seit Jahren immer besser, etwa in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. In Berlin sei die Zahl der Abiturienten mit Bestnote binnen zehn Jahren um das 14-Fache gestiegen, sagte Kraus der „Bild“-Zeitung (Ausgabe vom 12. Dezember). Zeugnisse dürften aber nicht zu „ungedeckten Schecks werden“. Kraus fordert darum: „Anspruchsvollere Bundesländer (wie Bayern) sollten die Abiturzeugnisse anspruchsloser Bundesländer (wie Berlin) nicht mehr anerkennen.“
Tatsächlich haben sich die Durchschnittsnoten der Berliner Abiturienten in den vergangenen zehn Jahren bundesweit am stärksten verbessert – von früher 2,68 auf 2,4 seit dem Jahr 2010. Den zweitgrößten Sprung machte Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Brandenburg und Thüringen. Gesunken ist der Durchschnitt unter anderem in Baden-Württemberg. Angeführt wird das Notenranking von Thüringen, wo die Durchschnittsnote bei 2,18 liegt, Schlusslicht ist Niedersachsen mit 2,58. Die Quote derjenigen, die eine glatte Eins machten, lag im vergangenen Jahr in Thüringen bei 3,1. In Brandenburg schafften das 2,2 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 2,1.
In dem von Kraus so scharf kritisierten Berlin betrug der Anteil der Besten in diesem Jahr 1,9 Prozent: Von 14.185 Abiturientinnen und Abiturienten machten 270 eine 1,0. Das sind nicht viele, aber tatsächlich deutlich mehr als noch im Jahr 2000, als nur 21 eine 1,0 bekamen. Allerdings liegt der Anteil der Abiturienten mit Bestnote im von Kraus hochgelobten Bayern sogar bei 2,1 Prozent. Und Berlin hat einen Abischnitt von 2,4, während der bayerische Landesschnitt bei 2,3 liegt.
Kann Berlin beim Abi gleichauf mit Bayern sein?
Was ist aus diesen Zahlen zu ersehen? Hat Bayern wirklich mehr starke Schüler – oder ein einfacheres Abitur? Der IQB-Ländervergleich über die Schülerleistungen in den neunten Klassen weist Bayern und Sachsen als Schüler mit „sehr hohem Leistungsniveau“ aus, erklärt Ludwig Spaenle, Bayerns Kultusminister, auf Anfrage. Das spricht in der Tat auch für leistungsstarke Abiturienten. Der Berliner Schnitt der Neuntklässler liegt weit unter dem der Bayern oder Sachsen. Kann Berlin da trotzdem beim Abitur fast gleichauf mit Bayern sein?
Dass der Berliner Abiturschnitt von 2,7 auf 2,4 geklettert ist, kann verschiedene Gründe haben. Einer davon ist die Einführung des Zentralabiturs (gemeinsam mit Brandenburg) im Jahr 2010. Die Erwartungshorizonte wurden dabei an mittleres Niveau angepasst. Schüler an starken Gymnasien, denen vorher von ihren Lehrern schwierigere Aufgaben gestellt wurden, erreichen nun bessere Ergebnisse. Hinzu kommt eine Berliner Besonderheit: die Präsentationsprüfung. Hier erarbeiten die Schüler wochenlang ein Thema und tragen es dann perfekt vor, wobei viele von ihnen sehr gut abschneiden.
Berlin hat seine Notenskala angepasst - auch an Bayern
Der dritte Grund für den gestiegenen Abischnitt: Berlin hat sich im Jahr 2010 an die großzügigere Notenskala anderer Länder angepasst, etwa an die von Bayern und Baden-Württemberg: Mussten Berliner Schüler bis dahin 50 Prozent der Aufgaben richtig lösen, um eine glatte Vier zu bekommen, reichen seitdem 45 Prozent. Und für eine Eins plus reichen nun 95 Prozent statt wie vorher 100 Prozent, für eine glatte Eins 90 Prozent, für eine Eins minus 85 Prozent.
Berlins damaliger Bildungssenator Jürgen Zöllner wollte damit die Benachteiligung Berliner Abiturienten bei der Zulassung zu Studienfächern mit Numerus clausus beenden. Ralf Treptow, der Vorsitzende der Vereinigung der Oberstudiendirektoren, hält es unter diesen Umständen für „unverantwortlich“ von Kraus, „die Bundesländer gegeneinander aufzuhetzen“. Offenbar kenne Kraus die Faktenlage nicht einmal, was ihn selbst diskreditiere. Die Berliner Landeselternvertretung sprach von einem "schlechten Scherz", die GEW nannte Kraus' Vorstoß "ärgerlich".
Beate Stoffers, die Sprecherin der Berliner Schulverwaltung, verweist darauf, dass der Berliner Schnitt seit Jahren bei 2,4 liege – von Inflation also nicht die Rede sein könne. Der steigende Anteil von Abiturienten mit Bestnote sei auch mit den zahlreichen Maßnahmen der Begabtenförderung in Berlin mitzuerklären, die seit 2004 im Schulgesetz verankert ist.
Allerdings gibt es auch Hinweise auf sinkende Anforderungen in Berlin: „Pillepalle“ seien die Aufgaben für die zentralen Matheprüfungen in Berlin in diesem Jahr gewesen, erklärten im Sommer Berliner Lehrer. Und auch von einer Tendenz zu leichteren Matheaufgaben im Abitur wurde berichtet.
Ein gemeinsamer Aufgabenpool soll mehr Vergleichbarkeit schaffen
Die Notwendigkeit, das Abitur einheitlicher zu gestalten, sieht man in der Kultusministerkonferenz schon länger. Acht Länder haben sich seit 2014 zusammengetan, um in Deutsch, Mathematik und Englisch gemeinsam entwickelte Aufgaben zu stellen. Im kommenden Jahr wollen alle Länder am selben Tag die Abiturprüfungen in Mathematik schreiben lassen. Außerdem wollen die Länder für die Fächer Deutsch, Englisch und Französisch einen festen Anteil von Aufgaben aus einem Pool stellen, den das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) bereitgestellt hat. Diese Aufgaben orientieren sich an den 2012 von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Bildungsstandards für das Abitur.
Aber von einem echten Zentralabitur könne auch dann keine Rede sein, meint etwa Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands. Dafür sei beim IQB-Aufgabenpool die „rechnerische Bedeutung“ des gemeinsamen Prüfungsteils zu klein.
Kraus’ Forderung, wonach vermeintlich anspruchsvolle Länder das Abitur von weniger anspruchsvollen Ländern nicht anerkennen sollen, hat jedenfalls keine Chance auf Umsetzung. Schon 1977 kippte das Bundesverfassungsgericht sogar eine Malus-Regelung: Wer aus einem Land kam, dessen Abiturschnitt über der jährlich ermittelten bundesweiten Durchschnittsnote lag, bekam bei der zentralen Studienplatzvergabe einen Abzug (Malus). Lag das Landesmittel darunter, gab es einen Aufschlag (Bonus).