Ursprung, Übersprung, Unfallthese: Warum wir wissen sollten, wie das Coronavirus entstanden ist
Die Frage, wo der Ursprung von Sars-CoV-2 liegt, bleibt bis heute unbeantwortet. Um die nächste Pandemie verhindern zu können, muss sie aber geklärt werden.
Der Autor Matthias Glaubrecht ist Evolutionsbiologe und Professor für Biodiversität der Tiere und Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg. In seinem Buch „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten" (C. Bertelsmann) beschreibt er ausführlich Fakten und Befunde des globalen Artenwandels.
Nach 14 Monaten der Pandemie sind 111 Millionen Infizierte und knapp 2,5 Millionen Tote weltweit dokumentiert – Dunkelziffer unbekannt. Doch die Frage, wo das Virus entstand und wie es sich ursprünglich verbreitet hat, ist weiterhin unbeantwortet, auch nach Abschluss der Untersuchung einer Experten-Kommission der Weltgesundheitsorganisation.
Die bekräftigte vergangene Woche, nachzulesen im Magazin „Nature“, dass es sich beim Ausbruchsgeschehen in Wuhan „höchstwahrscheinlich“ um eine Zoonose handelt, also eine auf natürlichem Wege entstandene, auf den Menschen übergegangene und für ihn gefährlich gewordene Seuche. „Extrem unwahrscheinlich“ sei, dass das Virus aus einem chinesischen Labor stammt.
Ende vergangener Woche machte dagegen eine als „Studie“ titulierte kommentierte Quellensammlung des Hamburger Physikers Roland Wiesendanger Schlagzeilen. Wiesendanger kam darin zu dem Schluss, dass es mehr als hinreichend Hinweise für einen Laborunfall als Ursprung von Sars-CoV-2 gebe (der Tagesspiegel berichtete).
Er erntete massive Kritik aus Fachkreisen, Beteiligung an der Verbreitung von Verschwörungstheorien und Unwissenschaftlichkeit wurde ihm unter anderem vorgeworfen. Die Frage „Natur oder Labor“ steht allerdings im Raum. Lässt sie sich beantworten?
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Vom Huanan-Markt, wo sich offenbar Mitte Dezember 2019 erstmals viele Menschen infizierten, von denen mehrere erkrankten und starben, führt die Spur nach allen bisherigen Erkenntnissen zu Fledermäusen im Süden Chinas. Nicht auf dem Markt selbst, sondern vielmehr rund 1600 Kilometer von Wuhan entfernt, könnte das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 und damit die Covid-19-Pandemie ihren Ausgang genommen haben.
Allerdings fehlen derzeit viele kritische Puzzleteile der Zoonosen-Theorie, wie der Stanford-Virologe David Relman in den „Proceedings of the National Academy of Science“ schreibt.
So wurde etwa trotz entsprechender Anstrengungen seitens chinesischer Forscher bislang weder unter Wild- noch Nutztieren ein Zwischenwirt identifiziert, der den Übersprung des Virus von Fledermäusen auf Menschen vermittelt haben könnte. Zudem werfen Eigenschaften des Virus, die Sars-CoV-2 von anderen Coronaviren unterscheiden und es infektiöser machen, Fragen auf.
In zwei Artikeln für Fachzeitschriften werden dazu verschiedene Szenarien diskutiert – und ein Ursprung in einem Labor nicht ausgeschlossen. Autoren sind ein Team um den Virologen Arinjay Banerjee an der McMaster University im kanadischen Hamilton sowie von der an der Universität Innsbruck tätigen Mikrobiologin Rossana Segreto und ihrem Genetiker-Kollegen Yuri Deigin. Vor allem letztere allerdings ernteten ebenfalls massive fachliche Kritik.
Fledermäuse sind als Reservoir von Coronaviren bekannt
Längst sind Fledermäuse als ein Reservoir für eine Vielzahl von Coronaviren bekannt. Nachdem Anfang 2020 das Genom des im Menschen aktiven und die Pandemie auslösenden Sars-CoV-2 identifiziert worden war, gerieten diese Tiere wieder in den Fokus.
Denn binnen Monatsfrist wurden gleich mehrere sehr ähnliche Coronaviren beschrieben, die ein Team um die Virologin Zheng-Li Shi aus Fledermäusen der chinesischen Provinz Yunnan isoliert hatte. Die am Virologischen Institut in Wuhan - nur einen Steinwurf weit entfernt von jenem Markt – tätige Shi nennt sich selbst gern „Batwoman“.
Sie hat über anderthalb Jahrzehnte intensiv Proben vor allem von Fledermäusen, aber auch von anderen Tieren in China, gesammelt und daraus mehr als 2000 Viren sequenziert. Darunter sind hunderte Coronaviren, von denen einige aus der Natur auf den Menschen überspringen könnten, so warnte sie immer wieder.
Zwar ist keines dieser bisher identifizierten Viren so ähnlich, dass es als unmittelbarer Vorfahre des Covid-19 verursachenden Virus in Frage kommt. Aber die Spurensuche, an der sich inzwischen weltweit Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Couleur beteiligen, kommt einem Krimi gleich. Auch hier geht es aber oft um kleinste Details, die aber große Bedeutung haben können.
Demnach findet sich die größte Übereinstimmung von immerhin 96,2 Prozent des Genoms bei einem „RaTG13“ benannten Virus. Es wurde – daher die Bezeichnung – in Fledermäusen der Art Rhinolophus affinis (Ra) entdeckt, stammt aus der Mojiang-Höhle in Tongguanzhen (TG) und wurde im Jahr 2013 (13) beschrieben.
In einer von Fledermäusen frequentierten Kupfer-Mine in Tongguanzhen waren im Jahr zuvor sechs Arbeiter an Lungenentzündung erkrankt, drei davon verstorben. Offiziell nahm man Pilzinfektionen als Auslöser an. Shis Team fand aber in Fledermäusen der Gegend auch besagte Viren, ohne dass sich diese allerdings auch bei den betroffenen Arbeitern oder anderen Menschen nachweisen ließen.
Später publizierten Mitarbeiter um Shi dann 2016 mit „BtCoV/4991“ ein weiteres Fledermaus-Virus aus derselben der Höhle in Yunnan. Nur aus dem Kleingedruckten wurde nachträglich klar, dass es in Teilen eine mit RaTG13 identische Gensequenz hatte – und dass diese im Zusammenhang mit den Erkrankungen der Minenarbeiter stehen könnte, wie Segreto und Deigin schreiben.
Pandemie steht mit Virus von 2012 in Beziehung
Erst nachdem mehrfach auf diese Sequenz-Identität hingewiesen wurde, haben Shi und ihr Team dies dann Anfang Dezember 2020 in einer Berichtigung ihres Originalartikels in „Nature“ bestätigt. Sie haben damit zugegeben, dass entgegen ihrer früheren Darstellung das Sars-CoV-2 am nächsten stehende Virus bereits vor Jahren und nicht erst nach dem Ausbruch der Pandemie identifiziert und im Labor in Wuhan vorhanden war.
Shi hat dies auch in einem ihrer wenigen Email-Interviews, veröffentlich in „Science“, bestätigt. Damit steht die Covid-19-Pandemie mit einem Virus in Beziehung, das bereits 2012 unerklärliche Fälle von teilweise tödlichen Lungenentzündungen lokal im Südwesten Chinas verursachte und von dem Proben im Institut in Wuhan lagerten.
Derzeit halten es die meisten mit der Ökologie von Viren befassten Experten – vor allem aufgrund von knapp vier Prozent Sequenzunterschied – nicht für wahrscheinlich, dass dieses spezifische Fledermausvirus direkt auf den Menschen übersprang und dort mutierte. Ihm fehlt die infektiöse Eigenschaft des Sars-CoV-2, für die ganz bestimmte Abschnitte der Virus-Erbsubstanz verantwortlich sind.
Eher wahrscheinlich ist, dass das Virus indirekt über einen Zwischenwirt auf den Menschen kam. Allerdings wurde schon Mitte 2020 nachgewiesen, dass zumindest RaTG13 menschliche Lungenzellen infizieren kann.
Fraglich ist auch, ob beim Übersprung tatsächlich die in Asien vorkommenden Pangoline (Schuppentiere) beteiligt waren, auf die im Februar 2020 zuerst der Verdacht fiel. Pangoline sind in China traditionell wegen ihres Fleisches und der Schuppen begehrt und werden dort trotz weltweiten Verbotes gehandelt. Bei Individuen des Malaiischen Pangolin (Manis javanica), die bereits im Jahr zuvor in Guangdong nahe Hongkong beschlagnahmt worden waren, wurde ein Coronavirus identifiziert.
Es ähnelt Sars-CoV-2 zwar nur zu 85 bis 92 Prozent. In einer wichtigen spezifischen Region aber zeigt es 97,4 Prozent Übereinstimmung. Diese sogenannte „rezeptorbindende Domäne“ ist bei Sars-CoV-2 gemeinsam mit einer sogenannten Furin-Spaltstelle gleichsam der Schlüssel, den das Virus nutzt, um in menschliche Lungenzellen einzudringen.
Allerdings reicht diese Übereinstimmung dann aber auch nicht aus, um Pangoline zum natürlichen Zwischenwirt zu machen. Für den den ersten Sars-Ausbruch 2003 verursachenden Virus, das in Schleichkatzen entdeckt wurde, fand sich ein zu 99,8 Prozent identisches Genom. Und bei keinem anderen untersuchten Schuppentier aus Malaysia, die zwischen 2009 und 2019 konfisziert wurden, ließen sich bezüglich Sars-Cov-2 verdächtige Coronaviren nachweisen.
Fachleute zeigten sich Anfang 2020 geradezu verblüfft, dass Sars-CoV-2 – gleichsam auf dem Rücken eines Erbmoleküls aus Fledermaus-Viren (RaTG13) – Eigenschaften von Viren kombiniert, die sich in den Pangolinen aus Guangdong und in weiteren Fledermäusen aus Yunnan fanden.
Neue Erkenntnisse überraschten auch Christian Drosten
Dass dabei die Zellrezeptor-Bindungsstellen verbunden mit der Furin-Spaltstelle für das Andocken des Spike-Proteins eine so entscheidende Rolle spielen, hat auch die Forscher der Arbeitsgruppe um Christian Drosten an der Charité überrascht. Sie erforschen seit langem den evolutiven Ursprung menschlicher Coronaviren. Während sich ähnliche Varianten der Hüllproteine zuvor auch bei aus Fledermäusen in Yunnan gewonnenen Viren fanden, sind Furin-Varianten vor allem bei Vogelgrippe-Viren bekannt.
Eine neue Studie von Immunologen um Bryan Johnson von der University of Texas in Galveston zeigt die Wichtigkeit des Furin-Abschnitts: Fehlt er, ist bei Versuchstieren die Infektiosität herabgesetzt. Wenn diese Viren sich in diesen Bereichen der Rezeptor-Bindungsproteine verändern, können offenbar jene Variationen entstehen, die uns – ähnlich wie etwa bei den anpassungsfähigen Grippeviren – bei Sars-Cov-2 zu schaffen machen.
Die entscheidende Frage lautet. Können diese Eigenschaften von Sars-CoV-2 auf natürlichem Weg, also durch Mutation, Selektion und Rekombination entstanden sein – oder eher durch Manipulation im Labor?
Entgegen früheren in „Nature Medicine“ erschienenen Berichten lässt sich dem neuartigen Virus allein anhand der Sequenz der Erbsubstanz nicht ansehen, wie es entstand und in welchem Wirt es mutierte. Damit bleibt unklar, ob die entscheidenden Veränderungen vor oder nach dem Übersprung von einem tierischen Wirt oder Zwischenwirt stattfanden, oder erst in einem Menschen.
Sicher ist, dass die nächstverwandten Viren von Sars-CoV-2, die aus Fledermäusen und anderen Tieren gewonnen wurden, im Labor des Virologischen Instituts in Wuhan aufbewahrt wurden und werden. Sicher ist auch, dass Shis Arbeitsgruppe dort auch Experimente an Viren-Mutationen durchgeführt hat. Dabei sind nachweislich auch Viren-Chimären produziert worden, mit denen man dann etwa Kleinsäuger infizierte, um deren Wirkung zu testen, wie Segreto und Deigin in ihrer Arbeit ausführlich darstellen.
Mit RNA-Viren lässt sich im Labor vieles untersuchen, was auch in der Natur durch Mutation und Rekombination passiert. Das ist aber nicht annähernd ein Beweis, dass im Fall von Sars-CoV-2 ein gefährliches Virus freigesetzt wurde. Dass solche „Gain-of-Function“ genannten Experimente überhaupt gemacht werden, wird meist so begründet: Sie erlauben, die Entstehung und Gefährlichkeit von Zoonosen besser zu verstehen und daraus auch vorbeugende Strategien abzuleiten.
Doch weil Viren in Wuhan auch genetisch manipuliert wurden, wird die Möglichkeit, dass zoonotische Viren letztlich unter Mitwirkung des Menschen auf die Bevölkerung übergesprungen sein könnten, auch in Expertenkreisen ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Das betont etwa Stanford-Virologe David Relman.
Sicher ist, dass es diese Versuche gegeben hat und dass am Institut für Virologie in Wuhan eine der weltweit umfangreichsten Sammlungen von Fledermausviren existiert. Gerade dieser Tatsache ist es aber auch zu verdanken, dass der Covid-19-Erreger überhaupt so schnell identifiziert und sequenziert werden konnte, wovon bis heute Diagnostik und Impfstoffforschung profitieren. Nachgewiesen ist auch, dass sich die einzelnen Komponenten von Sars-CoV-2 bei anderen Coronaviren in der Natur finden.
Fokus auf Süden Chinas ist kein Zufall
Dort, wo eine Epidemie zuerst entdeckt wird, muss sie aber nicht zwangsläufig auch entstanden sein. So argumentierten schon vor einiger Zeit die Infektionsbiologen Yong-Zhen Zhang und Edward Holmes von der Universität Sydney im Fachmagazin „Cell“. Dass nun der Süden Chinas in den Fokus gerät, ist kein Zufall. Denn dieser gehört, gemeinsam mit den angrenzenden Regionen in Vietnam, Laos und Myanmar sowie dem Norden Thailands, zu den biologisch vielfältigsten und artenreichsten Gebieten der Erde.
Dort haben auch die für Coronaviren empfänglichen Hufeisennasen-Fledermäuse vermutlich nicht nur ihren Ursprung, sondern mit 20 Arten von Rhinolophus auch ihren Verbreitungsschwerpunkt. Trotz aller Probensammlungen kenne man aber die wahre Vielfalt und das Vorkommen der Coronaviren bei weitem noch nicht ausreichend, so ein in Berlin tätiger Experte für die Ökologie und Evolution zoonotischer Viren im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Um die Kette der Ereignisse zu rekonstruieren, die tatsächlich zur Entstehung von Sars-CoV-2 führten, seien die verfügbaren Daten schlicht zu lückenhaft. Daher sei es wichtig, mehr über die natürlichen Reservoire in Fledermäusen, aber auch bei anderen Wild- und Nutztieren gerade in China herauszufinden.
Dort nach einem Tier mit einem Sars-CoV-2-ähnlichen Virus zu suchen, ist aber wie die Suche nach der Nadel im weltgrößten Heuhaufen. So haben sich schon mehrere Virologen geäußert. Es sei durchaus vorstellbar, dass der Erreger von Covid-19 während einer „Schlummerphase“ zu seinen Schlüssel-Mutationen kam.
Das könnte entweder in einem tierischen Wirt passiert sein oder in Menschen, ohne dabei starke Symptome auszulösen. Bei einer der nicht wenigen Personen, die jedes Jahr an nicht im Detail aufgeklärten viralen Erkrankungen versterben, könnte „es“ ebenfalls passiert sein. Oder eben im Labor – wofür aber eben jeglicher Nachweis fehlt.
Unstrittig, und in der Praxis sehr bedeutsam, ist nur eines: Wir bereiten mutierenden Viren derzeit die beste natürliche Bühne zur weiteren Evolution. Angetrieben enormen Bevölkerungswachstums verändert sich die Umwelt gerade in China rasant, durch Entwaldung, zunehmende Landwirtschaft und Verstädterung. Lebensräume schrumpfen, Menschen und Nutztiere leben enger zusammen, die ökologischen Kontakte nehmen zu.
Wuhan beispielsweise liegt mit seinen 11 Millionen Menschen in der Mitte zwischen der 23 Millionen-Metropole Shanghai und Chongqing, der mit 34 Millionen Einwohnern größten Stadt der Welt.
Um in solch einer dynamisch sich verändernden Umwelt die nächste Pandemie verhindern zu können, wäre es dringend nötig, die Infektionswege von Zoonosen besser zu verstehen. Das ist der wichtigste Grund, mit Hochdruck nach dem Ursprung von Coronaviren zu fahnden – und alles zu tun, deren Chance zum Übersprung auf Menschen zu minimieren.
Hintergrund: Ende vergangener Woche meldete sich der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger mit einem Thesenpapier zu Wort. Er listete dort verschiedene Quellen – von Youtube-Videos bis zu wissenschaftlichen Publikationen – auf und kommentierte diese.
Seiner Meinung nach legen sie in ihrer Summe nahe, dass Sars-CoV-2 nicht natürlich entstanden, sondern in einem Virenlabor in Wuhan hergestellt und von dort entwichen sei. Er wurde dafür heftig kritisiert. Im Interview mit dem Tagesspiegel sagte er, er habe vor allem eine Debatte über die aus seiner Sicht bislang einseitig behandelte Frage der Virenherkunft anstoßen wollen.
Der Verdacht, dass das Virus Produkt menschlicher Manipulation und Unachtsamkeit ist, wird schon lange diskutiert. Dass von offizieller chinesischer Seite eine Untersuchung von WHO-Experten lange verzögert wurde, dass es Hinweise auf die Existenz von relevanten Proben gibt, zu denen die Fachleute keinen Zugang bekamen, sowie Berichte über frühere Laborunfälle liegen diesem unter anderem zugrunde. Beweise gibt es keine.
Matthias Glaubrecht