„Mir fehlte kritische Reflexion in Deutschland“: Hamburger Professor bringt eigene Uni mit Corona-"Studie" in Erklärungsnot
Ein Hamburger Physiker argumentiert, Sars-CoV-2 könnte einem chinesischen Forschungslabor entsprungen sein. Kollegen sind entsetzt.
Die These ist nicht neu: Das Coronavirus, das sich seit Januar 2020 weltweit verbreitet, sei nicht natürlich entstanden, sondern in einem staatlichen Labor in Wuhan.
Der Hamburger Physik-Professor Roland Wiesendanger ist nun mit einem von ihm und der Presseabteilung seiner Universität als „Studie“ titulierten Papier an die Öffentlichkeit getreten. „Ich bin davon überzeugt, dass die Indizienlage klar ist und die jetzige Pandemie als Laborunfall begann“, sagte Wiesendanger dem Tagesspiegel.
Die „Studie“ besteht aus einer mehr als 100 Seiten umfassenden Erörterung aller möglichen Quellen – von Youtube-Videos und Artikeln des bei Verschwörungstheoretikern beliebten „Epoch-Times“-Portals bis hin zu Fachpublikationen.
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Fachfremde Antwort auf ungeklärte Frage
Wiesendanger, der bislang wissenschaftlich auf Gebieten wie Virologie, Evolution und Epidemiologie nicht tätig war, hat seinen Beitrag nicht bei einem wissenschaftlichen Journal eingereicht und dort also auch keiner Begutachtung durch Fachleute unterzogen. Er hat ihn auch nicht auf einem „Preprint“-Server, die der fachlichen Diskussion vor einer endgültigen Publikation dienen, hochgeladen. Zugänglich ist er nur über „Researchgate“, eine Art Facebook für Wissenschaftler.
Die Mitteilung der Uni geht darauf nicht ein und spricht durchweg nicht etwa von einem Thesenpapier, sondern von einer „Studie“. Nach Medieninformationen war dieses Vorgehen kein Versehen.
Die Veröffentlichung und Bekanntmachung auf diese Weise sei mit Uni-Präsident Dieter Lenzen abgestimmt gewesen, berichtet etwa die Website des ZDF. Wiesendanger schreibt sinngemäß, Virologen würden einseitig nur von einen zoonotischen Ursprung ausgehen – also einem natürlichen Überspringen eines Erregers, der sich in Tieren entwickelt hat, auf den Menschen.
Tatsächlich gilt in Fachkreisen die Frage, ob das Coronavirus natürlich entstanden ist oder im Labor, nach wie vor als ungeklärt. Die molekularbiologischen Daten erlauben es nicht, eine der beiden Möglichkeiten auszuschließen.
Echte Fachleute, zu denen Wiesendanger als Nanophysiker nicht zählt, halten einen natürlichen Ursprung aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen in der Mehrzahl für deutlich wahrscheinlicher und sind auch in der Lage, das fachlich plausibel zu untermauern.
Demgegenüber steht aber nicht nur die Tatsache, dass auch biologisch-theoretisch ein Ursprung per genetischer Manipulation im Labor nicht ausgeschlossen werden kann, sondern unter anderem auch das extrem restriktive Gebaren der chinesischen Behörden.
Auch die jüngste Untersuchung von Fachleuten der Weltgesundheitsorganisation in China war nicht unbedingt frei. Sie verzögerte sich mehrfach, zahlreiche mögliche Spuren existieren nicht mehr, nicht alle Laborproben wurden freigegeben. Dazu kommen weitere Indizien, die Wiesendanger aufzählt.
Labor-Theorie wird von vielen Wissenschaftlern kritisiert
Es gibt auch ein paar Publikationen von Fachleuten, die zu dem Schluss kommen, ein Ursprung im Labor sei mehr als nur möglich. Diese wurden aber von Fachkollegen fundiert kritisiert und gelten weithin als methodisch unzureichend und fehlerhaft. Die kritische fachliche Diskussion über virologische Forschung, bei der grundsätzlich die Gefahr besteht, dass gefährliche Varianten entstehen und bei fehlender Sorgfalt oder Unfällen auch frei werden können, hat sich seit Beginn der Pandemie auch deutlich intensiviert.
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Wiesendanger sagt, die Laborthese sei gerade in Deutschland schon frühzeitig als Verschwörungstheorie gebrandmarkt worden. In anderen Ländern sei die Berichterstattung dazu „sehr viel kritischer“ gewesen. „Diese kritische Reflexion des Themas hat mir weitgehend gefehlt in Deutschland“, sagt der Physiker.
Virologen hätten teilweise aus Eigeninteresse die Laborhypothese diskreditiert, so etwa der US-Forscher Peter Daszak, „der in Wuhan hochrisikoreiche Forschung an Coronaviren betrieben“ habe. Wiesendanger sagt, er wolle mit der Veröffentlichung vor allem eine Debatte über die „gain of function“-Forschung anregen. Das ist die wissenschaftliche Arbeit mit künstlich veränderten Viren, die gefährlicher sein können, als ihre natürlich vorkommenden Varianten.
Virologen müssten um Genehmigungen solcher Forschungsprojekte fürchten, wenn sich herausstellen sollte, dass Covid-19 mit einem Laborunfall begann. Auch die Forschung zu Zoonosen wäre betroffen. „Wenn jemand den Beweis erbringen würde, dass es ein Laborunfall war, dann würde niemand mehr Geld bereitstellen“, sagt Wiesendanger. Beweise dieser Hypothese kann aber auch er nicht liefern.
Großes Echo auf Wiesendangers Publikation
Aufmerksamkeit bekam er jedenfalls. Auf Twitter und anderswo fand Wiesendangers Publikation ein weitreichendes, sehr unterschiedliches Echo. Zahlreiche Fachleute kritisierten sein Vorgehen und das der Universität. Kollegen von seiner Hochschule distanzierten sich oder meldeten sich mit sarkastischen Kommentaren.
Die Molekularökologin Mathilde Cordellier etwa schrieb: „Nun hat meine Uni ihren eigenen Levitt“. Sie bezieht sich damit auf den Biophysik-Professor Michael Levitt von der Stanford University, der durch eine Reihe sich als grob falsch herausstellender Thesen zu Covid-19 Bekanntheit erlangt hat.
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Zudem ist aus Kreisen der Universität zu hören, dass viele entsetzt sind und um den Ruf ihrer erst jüngst zur Exzellenz-Universität aufgestiegenen Hochschule fürchten. Wiesendangers Papier habe zudem fachlich nur in etwa das Niveau einer durchschnittlichen studentischen Seminararbeit, so ein an der Uni Lehrender gegenüber dem Tagesspiegel.
Das Dekanat der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften distanzierte sich in einer Stellungnahme noch am Freitag von den „indizienbasierten Aussagen“. Es „befremde“ das Dekanat und einen Großteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fakultät, dass die „Studie“ über die offiziellen Kanäle der Universität Hamburg verbreitet wurde, und den Anschein erwecke, „dass es sich um fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse handeln würde“.
Unabhängig davon haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der „Coronavirus Structural Task Force“ der Uni mit Kernaussagen von Wiesendanger auseinandergesetzt. Zu Wiesendangers Argument, dass bislang kein Zwischenwirt gefunden wurde, von dem das Fledermausvirus auf den Menschen übertragen wurde, und dass dies daher unwahrscheinlich sei, schreiben sie, dass es nicht ungewöhnlich sei. Der Übertragungsweg von Sars-CoV wurde erst mehr als drei Jahre nach der Sars-Pandemie aufgeklärt, bei Mers dauerte es zwei Jahre. „Die Unkenntnis eines Zwischenwirtes widerlegt in keinster Weise eine Zoonose als Ursache“.
Studentische Vertreter fordern ein klares Signal ihrer Alma Mater. Der „Freie Zusammenschluss von Student*innenschaften“ etwa nennt den Vorgang einen „Skandal“. Dessen Vorstandsmitglied Jonathan Dreusch sieht in dem Papier ein „Machwerk aus zusammengewürfelten Studien, kritiklos übernommenen Artikeln und YouTube-Videos“.