zum Hauptinhalt
Schönes Wetter und viel los: Menschen laufen an einem sonnigen Tag durch Stockholm.
© AFP/Jonathan NACKSTRAND

Infektionszahlen steigen deutlich: Warum jetzt auch Schweden vor dem Corona-Winter zittert

Ende des Sommers feierte Schweden einen Etappensieg in der Pandemie, jetzt kehrt sich der Trend wieder um. Sogar lokale Lockdowns werden nun erwogen.

Die kalte Jahreszeit kommt – und in Schweden kommt sie schnell. Nachdem die Verantwortlichen des nördlichen EU-Landes angesichts des Infektionsgeschehens noch Anfang September optimistisch wirkten, zeigen sie sich nun in großer Sorge. Zwar steigen die Corona-Fallzahlen bisher nicht so dramatisch wie andernorts in Europa. Doch nach einigen Wochen mit abnehmenden Zahlen verzeichnet auch Schweden wieder deutlich mehr Neuinfektionen.

Wie aus dem Lagebericht der staatlichen Gesundheitsbehörde FHM vom Freitag hervorgeht, wurden in der Woche vom 21. bis 27. September fast 3000 bestätigte Neuinfektionen registriert. „Dies ist eine Steigerung um 40 Prozent im Vergleich zur Vorwoche“, schreibt die FHM. Es habe mehrere lokale Ausbrüche im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten wie unter anderem Schulfeiern, privaten Treffen und Festen gegeben.

So warnt denn auch Niklas Arnberg, Professor für Virologie an der Universität Umeå, in der Zeitung „Aftonbladet“: „Dass jetzt Herbst und Winter vor der Türe stehen, ist ein Faktor, der uns in eine schlechtere Lage versetzt als im Frühjahr, als die Pandemie zu uns kam. Uns steht unausweichlich eine lange Periode mit Wetter und Verhältnissen bevor, die eine Ausbreitung des Virus begünstigen.“

Am Freitag meldete die FHM 668 positive Tests binnen 24 Stunden. Am Vortag hatte es mit 752 Neuinfektionen den höchsten Stand seit Juni gegeben. Insgesamt verzeichnet Schweden bisher 5895 Verstorbene im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung.

Wie werden die nächsten Monate in der Corona-Pandemie in Schweden?
Wie werden die nächsten Monate in der Corona-Pandemie in Schweden?
© Jonathan Nackstrand/AFP

Die öffentliche Corona-Statistik wird inzwischen nur noch von Dienstag bis Freitag aktualisiert. Zur Begründung heißt es: Die Zahlen vom Wochenende kämen ohnehin verzögert. Die schwedischen Zahlen in der ECDC-Statistik sind deshalb auch nur von Mittwoch bis Samstag aktuell.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Besonders wegen der vergleichsweise hohen Todesrate steht Schweden auch international stark in der Kritik. Allerdings ist die Zahl der Covid-19-Toten deutlich zurückgegangen, sie liegt seit Wochen meist im einstelligen Bereich. Auch die Zahl der schweren Fälle, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen, ist seit Wochen gering. Im gesamten Land lagen am Freitag 22 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen.

Besonders betroffen ist wieder Stockholm

Vor allem die Hauptstadt Stockholm ist von dem neuen Trend betroffen. Dort wurden auch bisher die meisten Infektionen und Todesfälle verzeichnet. „Wir sind äußerst beunruhigt und sehen mit großer Sorge auf das Infektionsgeschehen in Stockholm“, sagte der Gesunddirektor der Region, Björn Erikson. Die steigenden Infektionszahlen deuteten darauf hin, dass „zu viele aufgehört haben, den Empfehlungen der FHM zu folgen. Man hat angefangen, zu locker zu werden“.

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell gibt den Kurs vor.
Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell gibt den Kurs vor.
© Pontus Lundahl/TT News Agency/AFP

Die FHM und ihr Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der die Regierung berät, hatten einen Lockdown für Schweden stets ebenso abgelehnt wie eine Maskenpflicht. Regierung und die Gesundheitsbehörde setzten seit Beginn der Krise mehr auf Appelle als Verbote. Sie forderten die Bürger auf, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten.

Menschen über 70 sollten zu Hause bleiben. Kindergärten und Schulen für Kinder unter 16 Jahre waren in Betrieb. Geschäfte blieben geöffnet, unter Auflagen auch die Gastronomie. Versammlungen waren auch in der Hochphase der Pandemie bis zu 50 Personen erlaubt. Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall zu Hause bleiben. Diese Empfehlung wurde bereits im Sommer für den Herbst verlängert. Strikt verboten waren ab Anfang April lediglich Besuche in Heimen.

Schwedens Bürger hielten sich an die Vorgaben. Die Konsequenz: Die Zahl der Erkrankungen ging signifikant zurück. Der deutliche Abfall der Kurve der Neuninfektionen seit Ende Juni sei „der Effekt der ergriffenen Maßnahmen, aber auch die Konsequenz aus der Spitze, die wir durch die vermehrten Tests in den Wochen vorher bekommen hatten“, erklärte Tegnell dem Tagesspiegel.

Bei den nun wieder ansteigenden Fallzahlen muss zwar berücksichtigt werden, dass  Schweden im September mit durchschnittlich etwa 136.000 Abstrichen pro Woche fast doppelt so viel getestet wie im August. Dadurch wurden unter anderem viele leichte oder symptomlose Erkrankungen entdeckt, die sonst nicht registriert worden wären.

Trotzdem gibt es auch in Schweden einen absoluten Anstieg der Neuinfektionen, was aus der von 1,6 (Kalenderwoche 38) auf 2,4 Prozent in der darauffolgenden Woche gestiegenen Rate von positiven Tests zu schließen ist, wie dem FHM-Lagebericht zu entnehmen ist. Das RKI meldete am 30. September für die betreffende Woche vom 21. bis 27. September bei 1,15 Millionen Tests einen Anstieg auf eine Positivrate auf 1,2.

Tegnell: „Es geht langsam aber sicher in die falsche Richtung“

Angesichts dieser Zahlen werden die Mahnungen in Schweden eindringlicher. „Arbeitet von daheim, umarmt euch nicht“, sagte Ministerpräsident Stefan Löfven vergangene Woche. Und auch Tegnell scheint inzwischen Zweifel zu haben, dass Appelle und Empfehlungen im Herbst und Winter nicht mehr ausreichen könnten. Auf einer Pressekonferenz sagte er gerade: „Es geht langsam aber sicher in die falsche Richtung.“

Grund für den möglichen Umschwung könnte das Ende der Urlaubssaison sein, so Tegnell. Die Schulferien endeten in Schweden landesweit am 18. August. Viele seien wieder zur Arbeitsstellen zurückgekehrt und hätten sich nicht an die Empfehlung gehalten, im Homeoffice zu arbeiten. Tegnell weiter: „Dies ist einer der großen Unterschiede zu früher.“

Gegenüber der Zeitung „Dagens Nyheter“ zeigte sich Tegnell erstmals offen für lokale Lockdowns -  auf einzelne Büros oder Stadtteile und maximal auf zwei bis drei Wochen begrenzt. Bislang habe er sich gegen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit - etwa durch vorgeschriebene Quarantäneregelungen - gewehrt, auch weil diese auf starken Protest bei sozial schwachen Bevölkerungsgruppen treffe, die von solchen Regelungen besonders stark betroffen seien. „Aber ich denke, es wird einfacher zu vermitteln sein, wenn wir klarmachen, dass diese Maßnahmen nur für eine kurze Zeit gelten werden.“

Erstmals Vorgaben für Partner von Infizierten

Einen generellen Lockdown lehnt Tegnell aber nach wie vor ab, weil es einer Strategie bedürfe, die langfristig durchzuhalten sei. Im britischen „Guardian“ sagte er: „Das Öffnen und Schließen wirkt sich überaus negativ auf das Vertrauen aus und hat deutlich mehr negative Effekte als Maßnahmen auf einem bestimmten Level zu halten.“

Allerdings sollen nun auch in Schweden beispielsweise Partner von Covid-19-Infizierten eine Woche lang nicht zur Arbeit gehen, höchstens zuhause arbeiten. Kita- und Grundschulkinder sollen allerdings weiter ihre Einrichtungen besuchen dürfen. Hier bleibt die Behörde bei ihrem Standpunkt, dass die jüngeren Kinder keine große Rolle bei der Virusverbreitung spielen und Schulbesuch wichtig ist. Bisher gab es überhaupt keine Einschränkungen für die nahen Kontakte von Infizierten.

Dass besonders ältere Menschen durch das Coronavirus gefährdet sind, war in der Pandemie relativ schnell klar. Eines der wichtigsten Ziele der schwedischen Strategie war daher, Ältere besonders zu schützen. Tegnell hatte mehrfach sehr deutlich seine Einschätzung geäußert, dass dieser Teil der Strategie gescheitert sei.

[Warum Schweden von seiner Strategie überzeugt ist. Lesen Sie hier eine Zwischenbilanz.]

Die Todesrate in den Heimen sei „schrecklich“, sagte der 64-Jährige. Etwa die Hälfte der Covid-19-Toten lebte in Heimen. Im Mai hatte eine Studie gezeigt, dass insgesamt 80 Prozent der Verstobenen pflegebedürftig waren. „Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben“, sagte Tegnell schon vor Wochen.

Virologe erstaunt über Aufhebung des Besuchsverbots

In dem Zusammenhang reagierte der Virologe Arnberg erstaunt auf die Tatsache, dass jüngst die Besuchsbeschränkungen für Seniorenheime aufgehoben wurden. Dieses war eines der wenigen ausgesprochenen Verbote und galt seit Anfang April. „Ich möchte nicht sagen, dass das eine Fehlentscheidung war“, sagte Arnberg „Aftonbladet“. „Aber die Nachricht hat mich schon überrascht. Sollte die Verbreitung des Virus wieder zunehmen – und so sieht es derzeit aus – kann es sein, dass wir wieder ein Besuchsverbot einführen müssen.“ Arnberg rechnet sowohl mit Infektions-Clustern als auch einer allgemein flächigen Wiederausbreitung des Coronavirus in Schweden.

Ende April in Stockholm: Trauer und Protest wegen der vielen Toten.
Ende April in Stockholm: Trauer und Protest wegen der vielen Toten.
© Jonathan Nackstrand/AFP

Die schwedische Strategie war auch von deutschen Experten von Beginn an heftig kritisiert worden. So sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach schon im Mai: „Der schwedische Weg muss als gescheitert gelten.“ Er sei „völlig verantwortungslos“, darin seien sich „alle Epidemiologen“ einig. Ohne Lockdowns, so Lauterbach, drohe die „Katastrophe“. Auch in Schweden gibt es eine größere Anzahl Mediziner und Wissenschaftler, die immer wieder einen Kurswechsel gefordert haben – und der FHM aktuell vorwerfen, die geringe Zahl der Covid-19-Toten sei auf ein verändertes Meldesystem zurückzuführen.

Gesundheitsexperte: Schweden ist keine Bananenrepublik

Allerdings gibt es auch andere Stimmen. Vor dem Wochenende sagte der Direktor des Instituts für globale Gesundheit der Universität Genf, Antoine Flahault, der „Bild“: „Die schwedische Strategie wurde wie eine Karikatur dargestellt.“ Aber, so Flahault. „Es war keine Anti-Lockdown-Strategie. Es war keine Herdenimmunität-Strategie.“ Sondern: „Die schwedische Strategie war eine Selbst-Lockdown-Strategie.“

Er sagt: „Der schwedische Weg war genauso wie der deutsche Weg erfolgreich darin, das wichtigste Ziel zu erreichen: zu verhindern, dass die Kapazitäten der Intensivbetten erreicht werden.“ Und: „Beide waren erfolgreich.“

Und Flahault geht noch weiter: „Deutsche, Franzosen und Schweizer haben den Schweden nichts zu sagen, wenn es um Gesundheit geht.“ Denn: Die Erwartung  gesunder Lebensjahre sei in Schweden hoch: „In Schweden sind es 73,7 Jahre, in Frankreich 63,4 und in Deutschland 65,1.“ Sein Fazit lautet: „Wenn die Schweden etwas über Gesundheit sagen, sollten wir lieber zuhören, als ihren Weg als Blödsinn abzutun. Das ist keine Bananenrepublik!“

Zur Startseite