Premier Löfven verteidigt Corona-Strategie: „Die Schweden haben ihr Leben dramatisch verändert“
Wegen der vielen Covid-19-Toten ist Schwedens Corona-Kurs scharf kritisiert worden. Doch Merkel zufolge ist „der deutsche Weg nicht so komplett anders“.
Schwedens Premier Stefan Löfven ist bei einem Besuch in Berlin dem auch in Deutschland weit verbreiteten Eindruck entgegengetreten, sein Land habe in der Pandemie einen eklatant anderen Weg eingeschlagen als die meisten anderen Staaten.
Nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete es der Sozialdemokrat als „übertrieben“, dass es „riesige Unterschiede“ zwischen der Corona-Politik seines Landes und der in Deutschland gegeben habe.
In Schweden habe es einen Mix aus Maßnahmen gegeben. Beim Abstands- und Hygieneverhalten hätten die schwedischen Behörden „klare Empfehlungen“ ausgegeben. Bei diesen handele es sich nicht „nur um einen freundlichen Ratschlag, sondern das ist eine nachdrückliche Empfehlung“, betonte Löfven.
Und die Schweden hätten sich daran gehalten, so der Premier, der das Land seit 2014 mit seiner rot-grünen Minderheitsregierung regiert. „Die Menschen haben ihr Leben ziemlich dramatisch verändert“, sagte Löfven. Für eine Auswertung der Coronavirus-Krise sei es zudem zu früh, sagte Löfven. „Wir sind vielleicht noch mitten in der Pandemie.“
Auch Merkel sagte angesprochen auf die Strategien beider Länder: „Der deutsche Weg ist nicht so komplett anders als der schwedische.“ Deutschland habe zwar in der Tat ein paar mehr Maßnahmen ergriffen als Schweden, aber auch deutlich weniger als beispielsweise Spanien, Italien oder Frankreich. Zudem seien die „Gegebenheiten in Deutschland und Schweden doch sehr unterschiedlich“. Im Gegensatz zu dem skandinavischen Land habe Deutschland etwa mit dem Ruhrgebiet und der Rhein-Main-Region sehr viele Ballungszentren.
Merkel und Löfven wollten sich ursprünglich bereits im Frühjahr treffen. Der Besuch des schwedischen Ministerpräsidenten wurde jedoch wegen der Corona-Pandemie verschoben. Bei dem Arbeitstreffen ging es nun unter anderem um den EU-Aufbaufonds, bei dem beide Staaten unterschiedliche Positionen vertreten hatten. „Wir haben hier einen Kompromiss erzielt“, sagte Merkel. Deutschland hat zurzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne.
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Schweden steht seit Beginn der Pandemie im Fokus und international in der Kritik. Das Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern verzeichnet rund 84.500 bestätigte Infektionen und 5832 Covid-19-Tote. Mit 575 Todesopfern pro Million Einwohner ist dies in der Pandemie bisher die achthöchste Todesrate der Welt und liegt sogar noch vor den USA. Die Nachbarländer Dänemark und Norwegen verzeichnen mit 108 beziehungsweise 50 Verstorbenen deutlich weniger. Selbst das sehr viel dichter besiedelte Deutschland kommt mit 112 auf eine sehr viel geringere Zahl.
Allerdings: Die Zahlen der Covid-19-Toten geht in Schweden seit dem Höhepunkt im April, wo zeitweise täglich um die 100 Verstorbene gemeldet wurden, kontinuierlich zurück. Seit Mitte August gibt es meist nur noch Meldungen im einstelligen Bereich, auch die Zahl der Patienten auf Intensivstationen ist stark rückläufig.
Dies gilt auch für die Zahl der Neuinfektionen. Im Gegensatz zu vielen Ländern in Europa, wo ein deutlicher Neuanstieg der Coronavirus-Fallzahlen zu registrieren ist, ob in Frankreich, der Niederlande, Deutschland, Belgien, Spanien und Italien, sinkt die Kurve in Schweden seit Anfang Juli rapide. Seit Mitte August liegt die Zahl der positiven Tests zwischen rund 350 und elf, die am Mittwoch gemeldet wurden.
Die Zahl der Tests war in den vergangenen Wochen deutlich ausgeweitet worden. Der deutliche Abfall der Kurve der Neuninfektionen seit Ende Juni sei „der Effekt der ergriffenen Maßnahmen, aber auch die Konsequenz aus der Spitze, die wir durch die vermehrten Tests in den Wochen vorher bekommen hatten“, erklärte Tegnell gegenüber dem Tagesspiegel.
Die schwedische Strategie in der Pandemie gab und gibt die Gesundheitsbehörde FHM mit dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell vor, der immer wieder von anderen Wissenschaftlern scharf für seinen oft als „schwedischen Sonderweg“ bezeichneten Kurs kritisiert worden ist.
Staatsepidemiologe Tegnell erwartet nur noch sehr lokale Ausbrüche
Am Dienstag erklärte Tegnell angesichts der Entwicklung der vergangenen Wochen, dass Schweden keine Wiederholung der Situation wie im Frühjahr mehr befürchten brauche. „Im Herbst werden wir es wohl mit sehr lokalen Ausbrüchen zu tun haben“, sagte er. Denen solle mit einen klaren System für lokale Beschränkungen, Tests und Nachverfolgung der Infektionsketten begegnet werden.
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Eine flächendeckende Ausbreitung des Virus werde es nicht mehr geben. „Ich bin sicher, dass dabei die Immunität eine Rolle spielt, aber wie groß der Anteil ist, lässt sich zum heutigen Tag schwer beurteilen. Um dies zu analysieren, bedarf es mehr Zeit.“
Tegnell war immer wieder vorgeworfen worden, mit seinem Kurs möglichst schnell die sogenannte Herdenimmunität anzustreben, auch um die Wirtschaft des Landes zu schützen – und dabei mehr Infizierte und letzte auch mehr Covid-19-Tote in Kauf zu nehmen. Tegnell hat dies stets dementiert. Zudem ist auch Schwedens Wirtschaft schwer getroffen – wenn auch nicht so sehr wie die anderer Länder der Eurozone.
Keine Maskenpflicht in Schweden, Schulen geöffnet
Tegnell, der die Regierung berät, hatte einen Lockdown für Schweden stets abgelehnt ebenso wie eine Maskenpflicht. Regierung und die Gesundheitsbehörde setzten seit Beginn der Krise mehr auf Appelle als Verbote. Sie forderten die Bürger auf, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten.
Menschen über 70 sollten zu Hause bleiben. Kindergärten und Schulen für Kinder unter 16 Jahre waren in Betrieb. Geschäfte blieben geöffnet, unter Auflagen auch die Gastronomie. Versammlungen waren auch in der Hochphase der Pandemie bis zu 50 Personen erlaubt. Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall zu Hause bleiben.
[Warum Schweden von seiner Strategie überzeugt ist. Lesen Sie hier eine Zwischenbilanz.]
Dass besonders ältere Menschen durch das Coronavirus gefährdet sind, war in der Pandemie relativ schnell klar. Eines der wichtigsten Ziele der schwedischen Strategie war daher, Ältere besonders zu schützen. Tegnell hatte mehrfach sehr deutlich seine Einschätzung geäußert, dass dieser Teil der Strategie gescheitert sei.
Hohe Rate Pflegebedürftige unter Covid-19-Toten
Die Todesrate in den Heimen sei „schrecklich“, sagte der 64-Jährige. Offiziellen Angaben zufolge waren fast 80 Prozent der bisherigen Covid-19-Toten Pflegebedürftige. „Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben“, so Tegnell.
Schwedens Weg sei aber keineswegs planlos gewesen, sagte auch Ilona Kickbusch, Gründerin des Global Health Center und Beraterin der Weltgesundheitsorganisation WHO, jüngst in einem NRD-Interview. „Was wir jetzt in der Öffnungsphase machen, hat Schweden konsequent durchgehend gemacht“, und bezog sich damit unter anderem auf die Schulen. Das sei von Beginn an ein systematisches Vorgehen gewesen – nur mit einer anderen Gewichtung als in Deutschland.
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Die Entscheidungen müsse man auch im Kontext sehen, so Kickbusch. Die schwedische Gesellschaft sei „sehr geordnet“ und baue auf „einer langen Tradition eines schwedischen Wohlfahrtsstaates“ auf, in dem Menschen ganz anders auf Empfehlungen des Staates reagierten.
Tegnell hat zwar wiederholt davon gesprochen, dass Schweden mit dem heutigen Wissen über das Coronavirus ebenfalls ein paar andere Maßnahmen ergriffen hätte. Auch sei es für eine Bilanz zu früh. Grundsätzlich zeigt er sich aber nach wie vor davon überzeugt, dass der schwedische Weg richtig ist. Am Dienstag sagte er, es habe sich vor allem deutlich gezeigt, „dass eine langfristige Strategie wie die schwedische die Ausbreitung des Virus auf eine recht dramatische Weise verringern kann“.