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Überfüllte Kliniken, überlastete Intensivstationen (wie hier im spanischen San Sebastián De Los Reyes) - Patienten mit herzinfarktsymptomen scheuen offenbar derzeit den Gang in die Klinik, was langfristig Folgen haben könnte, befürchten Mediziner.
© Eduardo Parra/Europa Press/dpa

Verschleppte Herzleiden, Zunahme von Suiziden: Warum in der Coronakrise nicht nur das Virus die Gesundheit gefährdet

Sars-Cov-2 macht krank, doch auch Lockdown und Angst in der Bevölkerung sind gefährlich. Ein Problem: Patienten meiden trotz Symptomen den Arztbesuch.

Etwa 300.000 Covid-19-Todesfälle weltweit zählt die Johns-Hopkins-Universität bislang. Vermutlich liegt die Zahl noch höher, denn in vielen Ländern werden Todesopfer auch nach schweren Atemwegserkrankungen nicht automatisch auf eine Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus getestet. 

Dementsprechend müsse die „Richtschnur all unseres Handelns“ sein, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Fernsehansprache Mitte März, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, „sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen“.

Doch die Maßnahmen zur Virusbekämpfung, etwa die Kontaktbegrenzungen und deren Folgen für die Wirtschaft, Lieferengpässe von Medikamenten oder die Konzentration von medizinischen Ressourcen auf Covid-19, wirken sich teils erheblich auf die Gesundheit aus.

Diese sind bislang allerdings nur unzureichend untersucht - für Spekulationen ist es also zu früh. Aus der Frühzeit der Pandemie wurde in China allerdings über Einzelfälle berichtet, nach denen Menschen mit anderen Erkrankungen als Covid-19 nicht behandelt wurden oder sich nicht in Kliniken trauten. Die Bekämpfung des Ausbruchs sei „mit hohen Kosten und Opfern von China und seiner Bevölkerung“ verbunden, erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Nicht genug Daten aus China

Als WHO-Experten im Februar nach China reisten, gelang es ihnen aber nicht, belastbare Erkenntnisse zu sammeln. „Wir haben nicht genug Daten, um die Auswirkungen des Ausbruchs von Covid-19 auf Patienten zu bewerten, die andere Krankheiten haben“, erklärte ein WHO-Sprecher auf Tagesspiegel-Nachfrage.

Kliniken in Europa, den USA und auch in Deutschland berichten bereits über „dramatische Reduktionen“ bei der Aufnahme von Patienten mit Herzinfarkt, warnte die Europäische Gesellschaft für Kardiologie im April, obwohl sich die Empfehlungen, zuhause zu bleiben, ausdrücklich nicht auf Patienten mit Herzinfarkt-Symptomen bezögen, sagte deren Präsidentin Barbara Casadei.

In Deutschland weniger Patienten in der Notaufnahme

Auch deutsche Kliniken meldeten weniger Notaufnahmen. Laut Wissenschaftlichem Institut der AOK sei im April ein Rückgang von Herzinfarkt- und Schlaganfallfällen um etwa 30 Prozent zu erkennen im Vergleich zum Vorjahresmonat. Außerdem seien 51 Prozent weniger Atemwegserkrankungen, 47 Prozent weniger Erkrankungen des Verdauungstrakts, 41 Prozent weniger Kreislauferkrankungen und 29 Prozent weniger Verletzungen und Vergiftungen diagnostiziert worden.

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Allerdings bräuchte es eine validere Datenbasis als die Verdachtsdiagnosen bei Klinikaufnahme, erklärte die AOK, da diese mitunter revidiert werden. 

Experten befürchten, dass Menschen Warnzeichen ignorieren

Dennoch sei klar, dass der Rat lauten muss: „Schieben Sie bei potentiell lebensbedrohlichen Beschwerden wie zum Beispiel Brustschmerzen den Arztkontakt nicht auf.“ 

Denn die Rückgänge der Notfälle „bedeuten nicht, dass die Infarkte abnehmen, sondern dass die Patienten aus Angst nicht in die Klinik gehen“, sagte Karl Stangl, Kardiologie-Direktor der Charité, dem Tagesspiegel. „Wir befürchten, dass wenn die Patienten dann wieder kommen, dass die Infarkte dann schwerer sind, weil sich der Schaden größer ausgebildet hat.“

Gefahr auch durch verschobene Operationen

Hinzu kommt, dass infolge der Coronavirus-Pandemie weltweit schätzungsweise 30 Millionen geplante Operationen verschoben oder abgesagt wurden und werden. Das schätzen Forschende der Universität Birmingham mithilfe von Daten von 359 Kliniken in 71 Ländern. 

Vor allem orthopädische Eingriffe an Knie- und Hüftgelenken aber auch Krebs-Operationen, in Großbritannien etwa 36.000, seien betroffen. „Der Zustand von Patienten kann sich verschlechtern und ihre Lebensqualität einschränken, während sie auf eine verschobene Operation warten“, erklärte Aneel Bhangu, einer der beteiligten Forscher. Mitunter könne das Verschieben von OPs, etwa bei Krebs, auch zum Tode führen.

Psychische Auswirkungen der Krise zollen ihren Tribut

Dass Krisen gesundheitliche Auswirkungen haben können, sei eindeutig, sagt auch das deutsche „Kompetenznetz Public Health COVID-19“ – ein Zusammenschluss von Fachverbänden – und verweist auf Studien zu früheren Krisen wie die Finanzkrise von 2007. 

Je stärker die Volkswirtschaft eines Landes betroffen war, umso gravierender die Folgen. In Griechenland etwa hätten sich in den Jahren 2010 bis 2012 ein Drittel mehr Menschen das Leben genommen als sonst. In manchen Bevölkerungsgruppen habe gesundheitsschädliches Verhalten wie Alkohol- oder Tabakkonsum zugenommen, in manchen Ländern jedoch auch abgenommen.

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Auch sei Arbeitslosigkeit mit einer durchschnittlich verringerten Lebenserwartung verbunden – etwa wiederum durch mehr Alkoholkonsum oder Suizide. Auch eine empfundene Arbeitsplatzunsicherheit könne sich über chronische Stresserfahrungen negativ auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken. 

Auch soziale Unterschiede schaffen Probleme

Die Pandemie kann darüber hinaus mit einer Erhöhung der sozialen Ungleichheit einhergehen: Gesundheitlich ohnehin beeinträchtigte Menschen sind oftmals besonders betroffen.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit können erheblich sein - und es gibt Anzeichen, dass die Suizidraten steigen werden, schrieb eine britische Forschergruppe im Fachmagazin „The Lancet Psychiatry“. Während der Grippepandemie 1918 und 1919 hätten sich die Suizidraten nach einigen wissenschaftlichen Untersuchungen erhöht – wie auch unter Senioren während des Sars-Ausbruchs in Hongkong 2003.

Ähnliche Entwicklungen könnten aber noch verhindert werden, wenn die Prävention gestärkt wird. Die Forscher raten auch dazu, den Zugang zu potenziell tödlichen Mitteln wie Schmerzmitteln einzuschränken, da diese ansonsten missbraucht werden könnten. „Unverantwortliche Medienberichterstattung über Suizide kann zu Steigerungen führen“, schreiben sie außerdem.

Eine Studie zu knapp 1700 Personen in Südkorea, die wegen Kontakt zu Patienten mit der Lungenkrankheit Mers in Quarantäne gestellt wurden, untersuchte auch längerfristige Folgen der erzwungenen Isolation. Während sieben Prozent der Personen Angstsymptome und 17 Prozent Gefühle wie Verärgerung oder Wut zeigten, war dies vier bis sechs Monate nach der Quarantäne noch bei drei beziehungsweise sechs Prozent der Fall. 

Problemen mit der mentalen Gesundheit könnte auch Monate nach der Isolation vorgebeugt werden, indem vulnerable Personen Unterstützung für ihre psychische Gesundheit erhalten – und verlässliche Informationen sowie Nahrungsmittel, Kleidung und Unterkunft zur Verfügung gestellt werden.

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Wichtig ist es, das mit den Infektionen und teils auch der Quarantäne verbundene Stigma zu reduzieren - denn auch diese kann erhebliche Auswirkungen auf die seelische Gesundheit sowie das Verhalten haben. Die psychologischen Auswirkungen von Quarantänen sind erheblich und können lange anhalten, schreiben Forscher vom King's College in London: „Die psychologischen Auswirkungen davon, keine Quarantänen einzusetzen und die Ausbreitung der Krankheit zuzulassen, können jedoch schlimmer sein.“

Ohne Schutzmaßnahmen könnten HIV, Tuberkulose und Malaria mehr Tote als Covid-19 verursachen

Insgesamt können die Folgen der Pandemie global verheerend sein. Ihre Auswirkungen könnten zusammen mit bestehenden Konfliktlagen zu „Hungersnöten biblischen Ausmaßes“ und 300.000 Todesfällen am Tag führen, warnte das UN-Welternährungsprogramm. Die Pandemie werde einen deutlichen Einfluss auf die Nahrungsmittelsicherheit haben und die Lieferketten beeinträchtigen, erklärten Forscher vom Imperial College in London am Dienstag – sie beraten auch die WHO.

Diese betonte kürzlich, dass das Ausbleiben von Schutzimpfungen und anderen Vorsorgemaßnahmen gegen Infektionen mit HIV-, Tuberkulose- oder Malaria-Erregern mit erheblichen Gesundheitsrisiken einhergeht – etwa in afrikanischen Ländern, wo derzeit rund 70.000 Sars-CoV-2-Infektionen und 2400 Todesfälle nach Covid-19-Erkrankung dokumentiert sind.

Nach Modellierungen der Londoner Forscher könnten aufgrund der Pandemie innerhalb von fünf Jahren ein Zehntel bis ein Drittel mehr Todesfälle durch diese Infektionskrankheiten auftreten: Bei HIV etwa durch die Unterbrechung von Therapien, was bei HIV-positiven Personen zum Ausbruch von Aids oder zu Verschlechterungen des Verlauf führen kann.

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Bei Tuberkulose könne es insbesondere zu Verzögerungen bei Diagnose und Therapie von Neuerkrankten kommen. Und bei Malaria könnten Probleme bei der Verteilung von Schutznetzen, die mit Insektiziden imprägniert sind, die größten Gesundheitsauswirkungen haben. Während in der Subsahara-Region mit rund 380.000 Toten neun von zehn der weltweiten Todesfälle durch Malaria auftreten, könnten durch die Krankheit hunderttausende weitere Menschen sterben, schätzen die Forscher:

„Entscheidende Präventionsaktivitäten und die Gesundheitsversorgung für HIV, Tuberkulose und Malaria aufrechtzuerhalten, könnte die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erheblich reduzieren.“ Je nach Art der Eindämmungsstrategie für Sars-CoV-2 könne die Zahl der indirekten Todesfälle deutlich über jener liegen, die durch die Pandemie zu erwarten sind.

Daher ist es entscheidend, die Strategie sowohl für das jeweilige Land wie auch global zu optimieren. Wenn etwa in westlichen Ländern mit guter Gesundheitsversorgung eine erhebliche Zahl an Infektionen zugelassen wird, um die Wirtschaft nicht zu sehr einzuschränken, kann dies zu „Exporten“ in Länder führen, bei denen die Eindämmungsmaßnahmen unverhältnismäßig viele Todesfälle zur Folge haben könnten.

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