Gastwissenschaftler in Berlin: Warum Halil Yenigün in der Türkei keine Zukunft mehr hat
Die Hochschulen in der Türkei sind schon länger unter Druck. Nach dem gescheiterten Putsch flog Halil Yenigün direkt aus den USA nach Berlin. Viele Forscher zieht es wie ihn nach Deutschland.
„Es läuft endlich wieder gut für mich“, sagt Halil Yenigün. „Ich bin in Deutschland, habe Arbeit in Berlin und konnte meine Visa-Probleme lösen.“ Der 38-jährige Professor für Politische Philosophie schlendert mit einem Thermobecher Kaffee in der Hand über den Campus der Freien Universität. Es sind seine ersten Schritte in der neu gewonnenen akademischen Freiheit. Der Abschied von Istanbul, von seinen Kollegen an der Universität, von Freunden und Verwandten schmerzt.
Doch Yenigün, der in den kommenden Monaten als Fellow des Forums Transregionale Studien an der Freien Universität arbeiten wird, ist erleichtert, dass er nach turbulenten Monaten und dem unfreiwilligen Abschied aus seiner Heimat zur Ruhe kommt und endlich wieder Zeit zum Forschen hat.
Der Aufenthalt in Berlin ist für ihn „eine Art Exil“. In der Türkei Erdogans sieht Yenigün für sich und für viele Kolleginnen und Kollegen keine akademische Zukunft mehr. Und das gelte nicht erst seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli. Seitdem dem staatlichen türkischen Hochschulrat 1981 die Aufsicht über die Universitäten übertragen wurde, hätten sie ihre Autonomie mehr und mehr eingebüßt. Der derzeitige Ratsvorsitzende sei ein Vertrauter Erdogans, der den Staatspräsidenten dabei unterstütze, die Hochschulen – ebenso wie die Medien – auf AKP-Linie zu bringen, sagt Yenigün.
Das System der Kontrolle und der Gefolgschaft habe sich verselbstständigt. Erdogan müsse die Entlassung von Dekanen oder Professoren nicht selbst anordnen, die Unileitungen würden in vorauseilendem Gehorsam handeln. Das hat der junge Wissenschaftler, der aus Istanbul stammt und an der dortigen Bosporus-Universität Politikwissenschaft und Soziologie studiert hat, persönlich erfahren.
Yenigün rechnet sich der religiös motivierten Opposition gegen Erdogan und die AKP-Regierung zu. Im Januar dieses Jahres gehörte er zu den über 1000 Erstunterzeichnern einer Friedenspetition, mit der Professorinnen, Professoren und akademische Mitarbeiter gegen die „Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“ in den Kurdengebieten protestierten. Erdogans Antwort an die „Akademiker für den Frieden“ war gewohnt hart: Er nannte die Aktion „barbarisch und niederträchtig“ und bezichtigte die Unterzeichner – mit Blick auf die verbotene PKK – der „Propaganda für eine Terrororganisation“.
Yenigüns Universität, die Stiftungshochschule der Handelskammer von Istanbul, suspendierte ihn sofort, als seine Beteiligung an der Petition bekannt wurde. Der Kolumnist einer regierungsnahen Zeitung nannte ihn einen „PKK-Professor“. Daraufhin teilte ihm die Unileitung mit, er sei nun endgültig untragbar – und werde fristlos entlassen. Yenigün wurde polizeilich vorgeladen, die Universität untersuchte seinen „Fall“ – ohne etwas Belastendes zu finden, wie Yenigün sagt. Er klagte gegen seine Universität und gegen den Kolumnisten, die Staatsanwaltschaft aber habe das Verfahren nicht eröffnet. Er solle froh sein, dass er nicht selber vor Gericht gestellt werde, habe man ihm zu verstehen gegeben.
"Unsere Arbeit in der Türkei hat keinen Sinn mehr"
Als Mitte Juli der Militärputsch scheiterte, war Yenigün schon außer Landes. Die Nachrichten erreichten ihn während einer Vortragsreise in den USA. Unter anderem in Harvard und an der University of Virginia, wo er 2013 promoviert wurde, sprach Yenigün über das politische Denken und das Demokratieverständnis in der muslimischen Welt und über den Zustand der türkischen Demokratie. Zu Gast war er auch bei der Jahrestagung der „Scholars at risk“ in Montreal (Kanada). Für deren Kongress-Thema, „Universities in a Dangerous World“, ist Yenigün einer von nur allzu vielen Augenzeugen.
Sein Rückflugticket nach Istanbul hatte er immer dabei – aber auch die Einladung, ab Oktober für ein Dreivierteljahr nach Berlin zu kommen, ans Forum Transregionale Studien. Als Erdogan nach dem Putschversuch ein Reiseverbot für Wissenschaftler erließ, buchte Yenigün nach Berlin um. „Ich wollte die Chance, die Stelle hier in Berlin anzutreten, nicht verpassen.“ Zwar wurde das Reiseverbot noch im Juli wieder aufgehoben, aber Yenigün sieht erste Anzeichen, dass die Verfolgung von Anhängern der Gülen-Bewegung und solchen, die dafür gehalten werden, auf die Opposition übergreift.
Es sind indes nicht nur politische Gründe, die Yenigün eine akademische Zukunft in der Türkei aussichtslos erscheinen lassen: „Die Universitäten sind in einem so schlechten Zustand, dass unsere Arbeit keinen Sinn mehr hat.“ Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei wurden nach der Jahrtausendwende zahlreiche Hochschulen neu gegründet, jedoch ohne ausreichende Finanzierung und Personalausstattung. „Wir Dozenten mussten wöchentlich sechs Seminare geben, darunter hat die Qualität der Lehre gelitten und uns fehlte die Zeit zum Forschen.“
Humboldt-Stiftung: Viele türkische Forscher wollen nach Deutschland
Auch die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) registriert besorgt, dass sich türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler offenbar gezwungen sehen, ihre Heimat für längere Zeit zu verlassen. Das Interesse türkischer Wissenschaftler an einem Philipp-Schwartz-Stipendium, mit dem deutsche Forschungseinrichtungen gefährdete Forscher für zwei Jahre aufnehmen können, sei in der zweiten, noch laufenden Auswahlrunde noch einmal gestiegen, sagt AvH-Sprecher Georg Scholl. Schon in der ersten Runde, die im Juni entschieden wurde, waren die türkischen Antragsteller die zweitgrößte Gruppe nach den Syrern (Informationen zur Philipp Schwartz-Initiative finden Sie hier).
Im Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung sieht Caner Aver, Programmleiter für Hochschule und Migration, bereits „die Gefahr eines Brain Drains“. Eine „Aufbruchsstimmung“ habe auch die Rückkehrerstammtische in Istanbul und Izmir erfasst. Dabei handelt es sich um lose Vereinigungen von Deutschtürken und -türkinnen, die in Deutschland studiert haben und seit Mitte der 2000er Jahre in der Heimat ihrer Eltern und Großeltern leben und arbeiten, weil sie dort bessere berufliche Perspektiven sehen. Aver hat die Motive dieser Arbeitsmigranten untersucht, Studien dazu publiziert. Jüngste Befragungen zeigten, dass der zunehmend autoritäre Stil Erdogans abgelehnt werde und viele über eine „Re-Remigration“ nachdächten, sagt Aver.
Halil Yenigün berichtet, dass sich etliche Kollegen, die wie er in früheren Jahren in Amerika studiert haben und in die Türkei zurückgekehrt waren, wieder um Stellen in den USA bemühen. Von den „Akademikern für den Frieden“ seien etwa 20 ins Ausland gegangen, außer ihm drei weitere nach Berlin. Yenigün hofft, dass er zumindest einige Jahre hier leben und arbeiten kann. Einen Anschlussjob ab Sommer 2017 hat er schon – am Berliner Zentrum Moderner Orient.
Einen aktuellen Lagebericht über deutsch-türkische Wissenschaftskooperationen lesen Sie hier.
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