Kritik an Deutschlands Haltung: „Warum gibt es so wenig Empathie mit Ukrainern?“
Die Ukraine und Deutschland verbindet viel. Das ändert sich gerade, sagt die Germanistin Alla Paslawska: Die Deutschen würden ihr Land wenig verstehen.
Alla Paslawska ist Präsidentin des Ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbandes. Sie lehrt und forscht als Professorin an der Iwan-Franko-Universität in Lwiw.
Russland bedroht die Ukraine mit einem massiven Truppenaufmarsch. Sie sind Professorin in Lwiw, im Westen der Ukraine. Wie schlägt sich das bei Ihnen auf den Alltag nieder?
Russland hat seinen Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 angefangen. Seitdem hat sich unser Leben wesentlich verändert. Als Professorin im Westen der Ukraine bin ich durch den Krieg vor allem moralisch betroffen. Die Nachricht von den ersten Gefallenen im Osten – und darunter waren auch Studierende meiner Iwan-Franko-Universität in Lwiw – hat uns alle schockiert, aber gleichzeitig auch mit unseren Streitkräften solidarisiert.
Der gegenwärtige Truppenaufmarsch Russlands ist nichts Neues, aber trotzdem fühlen sich viele Ukrainer beunruhigt. Mein Alltag als Professorin hat sich wenig verändert. Ich muss viel schreiben, korrigieren, unterrichten. Es bleibt wenig Zeit für Angst, aber die Gefahr einer Eskalation des Krieges setzt auch mich unter Druck.
In der Ostukraine ist seit 2014 Krieg. Wie hat das das Land verändert?
Ich muss die Begriffe näher bestimmen. Es ist kein Krieg in der Ostukraine, sondern ein Krieg Russlands gegen die Ukraine. An diesem Krieg beteiligen sich auf ukrainischer Seite Bürger aus allen Teilen der Ukraine. Es mag zynisch klingen, aber der Krieg hat die Ukraine und die Ukrainer in jeder Hinsicht stärker gemacht.
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Ein Teil der Bevölkerung, der vor dem Krieg noch an Freundschaft mit Russland glaubte, musste sich von dieser Illusion lösen. Etwa 15.000 Gefallene im Krieg haben jeden Menschen in der Ukraine verändert. Gleichzeitig wurde für viele klar, dass man eine starke Armee und zuverlässige Verbündete braucht, die im Notfall – wie zum Beispiel dem jetzigen – mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Sie haben als Germanistin viele Kontakte nach Deutschland. Werden Sie von den Kolleginnen und Kollegen in Deutschland auf die Situation in Ihrem Land angesprochen?
Meine Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland interessieren sich für die gegenwärtige Situation in der Ukraine. Natürlich wünschen sie uns Frieden. Aber ihre Stellungnahme zum russisch-ukrainischen Krieg ist wesentlich durch die russische Propaganda beeinflusst.
Die meisten deutschen Medien haben ihre Mitarbeiter in Russland, aber so gut wie keine in der Ukraine. Die Informationen über die Ukraine kommen aus Russland nach Deutschland und werden meistens über russische Medien gesammelt. Außerdem gibt es viele weitere Faktoren, die die deutsche Position gegenüber der Ukraine beeinflussen.
Welche sind das?
Lange historische und kulturelle Kontakte zu Russland, das Schuldgefühl nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt auch die Sparsamkeit der deutschen Steuerzahler, die nicht verstehen, warum sie in die Ukraine ihr Geld investieren sollten. Ich erinnere an eine deutsche Journalistin, die in einem Anne-Will-Talk vor mehreren Jahren die Ukraine als „irrwitziges Gebilde“ bezeichnet hat. Einige von meinen deutschen Kollegen waren von diesem „glänzenden Interview wie aus alten Zeiten“ begeistert, während ich und meine ukrainischen Kolleginnen sprachlos waren.
Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland genügend Verständnis für die Ukraine gibt?
Deutschland ist sehr unterschiedlich. Ich habe da gute Freunde, die viel Verständnis für unsere Situation haben. Sie sind jedoch leider in der Minderheit. Den Hauptgrund dafür sehe ich im Mangel an objektiven Informationen über die Ukraine und ihre Geschichte
Der durchschnittliche Deutsche weiß kaum etwas über die von der Sowjetmacht absichtlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932/1933, der über sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen. Jede Minute starben in der Ukraine 17 Menschen, jede Stunde 1400 Menschen und jeden Tag über 30.000.
Und nicht einmal zehn Jahre später marschierten die Deutschen ein.
Nur Fachleute wissen vermutlich, dass die Ukraine im Zweiten Weltkrieg acht bis zehn Millionen Menschen verloren hat. Aber abgesehen von den Tragödien der beiden Weltkriege assoziiert man in der Ukraine, insbesondere auf dem ehemaligen Territorium der Habsburger Monarchie, die Deutschen traditionell mit Zuverlässigkeit, Ordnung, Fortschritt, Bildung, Buchdruck etc. Daher verstehen viele in der Ukraine nicht, warum es in der deutschen Bevölkerung so wenig Empathie gegenüber den Ukrainern gibt.
Die Bundesregierung wird für ihre unentschlossene Haltung in dem Konflikt international sehr kritisiert. Teilen Sie die Kritik?
Einerseits kann ich die Haltung der Bundesregierung verstehen: Sie will, dass sich Deutschland an keinem Krieg mehr beteiligt. Aber die Geschichte hat uns bereits mehrmals gelehrt, dass scheinbare Neutralität Diktatoren nur zu weiteren Kriegen bewegt. Die Ukraine ist nicht das erste Opfer Russlands. Davor waren es bereits Tschetschenien, Abchasien, Transnistrien. Jetzt sind die Krim und der Osten der Ukraine dran.
Wer kommt danach? Wenn die deutsche Regierung der Ukraine Spitale und Helme als Unterstützung anbietet, dann hat man den Eindruck, dass sie sich dessen bewusst ist, dass es zu einer Eskalation des Krieges kommen wird und Menschen ums Leben kommen werden, aber sie wird erst eingreifen, wenn Menschen bereits verwundet sind. Ein/e Ukrainer/in denkt dabei, dass Deutschland auf der Seite Russlands ist. Über die Pipeline lässt sich gar nichts mehr sagen. Da hat man die Solidarität zugunsten von Profit geopfert.
Wie hat sich die Wahrnehmung Deutschlands in der Ukraine in den vergangenen Wochen verändert?
Die Wahrnehmung Deutschlands in der Ukraine hat sich in den vergangenen Wochen verschlechtert. Das muss man schon sagen. Und das ist für mich persönlich auch eine Herausforderung, denn als Germanistin und Präsidentin des Ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbandes setze ich mich seit mehreren Jahren für die deutsche Sprache, Kultur und Literatur in der Ukraine ein.
Ich weiß aus konkreten Beispielen, wie viel der deutsche Staat, seine Vereine, Stiftungen, zahlreiche Bürger/innen in die Ukraine investiert haben. Dabei geht es nicht nur ums Geld. Dazu gehören zahlreiche gemeinsame Projekte, Veranstaltungen, Austausch und Freundschaften fürs Leben. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich die gegenwärtige Situation in der nächsten Zeit verbessern wird.
Hat das Deutschlandbild langfristigen Schaden genommen?
Ich hoffe sehr, dass es dazu nicht kommt. Deutschland war in den letzten Jahren ein zuverlässiger Freund und Partner der Ukraine. Wir wollen sehr, dass es auch dabei bleibt. Denn in unserem Fall geht es nicht um die Unterstützung der Ukraine. Es geht um Demokratie und demokratische Werte, die für Deutschland so viel bedeuten.
In der Ukraine gibt es ein reichhaltiges deutsches Kulturerbe. Welche Rolle spielt das noch für die moderne Ukraine?
Die Ukraine ist eine Schatzkammer des deutschen Kulturerbes. Die Deutschen haben tiefe Spuren in der ukrainischen Geschichte hinterlassen, wovon zahlreiche Gebäude von deutschen Architekten, der Einfluss des deutschen Rechts in der ukrainischen Gesetzgebung, literarische Werke mehrerer aus der Ukraine stammender deutscher Schriftsteller und sehr viele Wörter deutscher Herkunft im Ukrainischen zeugen.
Die Geschichte der Deutschen und des Deutschen in der Ukraine führt in die ferne Vergangenheit zurück. Heutzutage kann man sich kaum noch vorstellen, dass im Mittelalter große ukrainische Territorien deutschsprachig waren. Deutsche Kolonisten waren echte Kulturträger zu verschiedenen Perioden der ukrainischen Geschichte. Ihr Beitrag zur Entwicklung des ukrainischen Rechts, des Dorf- und Stadtbaus, des Handels und der Landwirtschaft darf nicht unterschätzt werden. Aber genauso wichtig oder noch wichtiger war der geistige Einfluss der deutschen Kolonisten, ihre mitgebrachten Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit.
Was ist mit der deutschen Sprache?
Diese hat den ukrainischen Wortschatz wesentlich bereichert. Sie hat zu verschiedenen Zeiten die Rolle einer Mittlersprache gespielt, über die ins Ukrainische das Beste aus der Weltliteratur übersetzt wurde. In einem Zusammenspiel mit anderen Sprachen und Kulturen auf ukrainischem Boden trug Deutsch einerseits zur Herausbildung der ukrainischen Identität bei und schlug andererseits eine Brücke nach Zentraleuropa, wo es zu Hause ist.
Sie vertreten Germanisten und Deutschlehrkräfte. Wie wichtig ist Deutsch als Fremdsprache heute an den Schulen und Hochschulen in der Ukraine?
Deutsch bleibt eine wichtige Fremdsprache im ukrainischen Schul- und Hochschulbereich. Sie gehört in der Ukraine nach wie vor zu den vier meistgelernten Sprachen und ist auf Platz zwei nach dem Englischen. Der Deutschunterricht hat in der Ukraine eine lange und erfolgreiche Tradition. Deutsche Schulen, also Schulen mit erweitertem Deutschunterricht, haben in der Ukraine einen guten Ruf. Leider ist die Zahl der ukrainischen Germanistik-Studierenden in den letzten Jahren gesunken.
Woran liegt das?
Über eine sinkende Zahl von Germanistik-Studierenden beschwert man sich auch europaweit und die Ursache ist eher in der Krise der philologischen Ausbildung im Allgemeinen zu suchen. Aber diese Tatsache wird zu einer Herausforderung auch für die ukrainische Germanistik. Sie versucht, durch innovative didaktische Methoden und eine Digitalisierung des Lernprozesses das Fach attraktiver zu machen. Zu erfolgreichen Projekten gehören zahlreiche Übersetzungsprojekte, in deren Rahmen Studierende zusammen mit Lehrenden Werke deutschsprachiger Schriftsteller aus der Ukraine ins Ukrainische übersetzen.