Ukraine: Wie Bewohner des Landes die russische Bedrohung sehen
Der Krieg im Osten der Ukraine hat die Westorientierung der Ukraine gefestigt. Ein Bericht aus einem gespaltenen Land.
Er hätte die Ostukraine nie verlassen. Doch der Krieg zwischen der ukrainischen Armee und sogenannten pro-russischen Separatisten zwang Konstantin Reuzkij 2014 zur Flucht. Seitdem kommt er nur noch bis auf etwa 15 Kilometer an seine Heimatstadt Luhansk heran, wenn er sich mit seiner humanitären Hilfsorganisation Wostok SOS wieder auf einer Mission an der Frontlinie befindet. Der Krieg hat alles verändert, sowohl im Leben des 46-Jährigen als auch in der Geschichte seines Landes.
Seit der Unabhängigkeit vor 30 Jahren ringt die Ukraine um ihre Ausrichtung zwischen Ost- und Westeuropa, orientiert sich je nach politischer Führung mehr an Russland oder an der EU. Lange galt das Land als gespalten. Doch der „Krieg mit Russland“, wie Reuzkij den Konflikt in der Ostukraine nennt, hat dem Ringen um Identität ein Ende bereitet.
Seit 2014, als Russland die Krim annektierte und begann, die Separatisten in der Ostukraine militärisch zu unterstützen, steigt in Umfragen der Anteil der Ukrainer kontinuierlich an, die einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union und zur Nato wollen. „Diese eindeutige Westorientierung ist neu und eine direkte Folge des Krieges“, sagt Gwendolyn Sasse, Direktorin des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).
Auch Reuzkij ist mittlerweile für einen Nato-Beitritt seines Landes. „Früher war ich skeptisch, aber seit 2014 denke ich, ein Beitritt ist eine der wenigen Möglichkeiten, unsere Souveränität zu verteidigen.“ Das Jahr 2014 war traumatisch für die ukrainische Gesellschaft. Das Land lebte im Ausnahmezustand, die Armee erwies sich als verteidigungsunfähig. Tausende Freiwillige meldeten sich, um die Abwehr der Aggression in die eigenen Hände zu nehmen. „Auf derartige Szenarien fühlt sich die Gesellschaft heute besser vorbereitet“, sagt Gwendolyn Sasse.
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Reuzkij stammt aus einer Militärfamilie. Schon sein Onkel, Cousin und Großvater dienten in der Armee, er sollte folgen. Doch als junger Mann lehnte er Militarismus ab und wandte sich dem Buddhismus zu. Dann kam der Krieg und heute trainiert Konstantin Reuzkij dreimal im Jahr den Ernstfall als Reservist. „Wenn Russland seine Aggression gegen uns ausweitet, braucht es jeden, der eine Waffe in der Hand halten kann“, sagt er. Aktuell erklärt sich rund ein Drittel der Bevölkerung bereit, das Land im Falle eines erneuten Angriffs durch Russland aktiv mit der Waffe zu verteidigen.
Logische Fortführung
Der Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist für Reuzkij die logische Fortführung der russischen Außenpolitik der vergangenen 15 Jahre. „Der Kreml will die souveränen Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle bringen. Der Westen hat davor bisher die Augen verschlossen“, meint er. Diplomatische Bemühungen, Waffenlieferungen und angedrohte Sanktionen lassen bei ihm Hoffnung aufkeimen, „dass der Westen sich nicht so ratlos zeigt, wie das letzte Mal“.
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Das Land sei heute keiner größeren Bedrohung ausgesetzt als in den vergangenen Jahren, erklärte der ukrainische Präsident Selenski in der vergangenen Woche. Das steht im Widerspruch zu den Aussagen des US-Außenministers Antony Blinken, der die Familien der US-Diplomaten in Kiew evakuieren lässt. „Was ist neu?“, fragte Selenski in seiner Videobotschaft. „Hat die Invasion nicht bereits 2014 begonnen?“
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Seit dem Schicksalsjahr 2014 gehen viele Ukrainer immer weiter auf Distanz zu Russland. Die einen sprechen im Alltag vermehrt ukrainisch, die anderen fahren nicht mehr nach Russland in den Urlaub und wieder andere können sich nicht vorstellen, „den Russen zu verzeihen, was sie uns angetan haben“. So ist es auch zu verstehen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung das Vorgehen des Präsidenten gegen seinen pro-russischen Widersacher Wiktor Medwedtschuk unterstützt. Der Oligarch Medwedtschuk, im fernen Sibirien geboren und Chef der Partei Oppositionsplattform – Für das Leben, gilt als Putins engster Vertrauter in Kiew.
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