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Neue Bibliotheken wollen die Beschaulichkeit alter Büchereien aufgeben – und als Architekturereignis Nutzer zum Lesen animieren. Ein Beispiel ist die von Rem Koolhaas entworfene Public Library im amerikanischen Seattle.
© imago/ZUMA Press

Bibliotheken im 21. Jahrhundert: Von der Bücherei zum Ideen-Tempel

Bibliotheken des 21. Jahrhunderts sind Orte der öffentlichen Kommunikation – mit erstaunlichem Erfolg. In London etwa wurden Stadtbüchereien durch "Ideen-Läden" abgelöst. Auch in Berlin und Potsdam gibt es Beispiele.

Handschriften und gedruckte Bücher waren in früheren Jahrhunderten Werte, für die man prächtige Schatzhäuser baute, im antiken Alexandrien wie im Vatikan der Renaissancezeit, in Barockklöstern wie den Hauptstädten des 19. Jahrhunderts. Dann verloren die Bücher ihre Eigenschaft als gehütetes Herrschaftswissen für eine privilegierte Klientel und die Bibliotheken wurden zu öffentlichen Dienstleistungsbauten, die im Stadtbild keine hervorgehobene Stellung mehr einnahmen. Hans Scharouns Berliner Staatsbibliothek (1967–76) war für lange Zeit der letzte Bücherbau in Deutschland mit betont architektonischem Anspruch. 2004 dann der Tiefpunkt: Die Bibliothek der TU an der Fasanenstraße ist ein freudloses Funktionsgebäude mit wenig Aufenthaltsqualität. Immerhin, fast gleichzeitig implantierte Norman Foster in einen Hof der Dahlemer „Rostlaube“ einen spektakulären, häufig fotografierten blasenförmigen Bücherbau für die Philologische Bibliothek der Freien Universität.

Inzwischen hat ein ganz neuer Typus von Bibliotheken im Ausland von sich reden gemacht. Den Beginn markierte die Mediathek, die der Architekt Toyo Ito 2001 im nordjapanischen Sendai errichtete und die zur Touristenattraktion geworden ist. Ein öffentlicher Ort für das Informationszeitalter mit multikultureller Konzeption, kein besinnlicher Büchertempel. Die Geschosse sind nicht in Räume unterteilt, sondern zoniert. Es gibt eine Plaza mit Café, ein Ausstellungsgeschoss und im obersten Stock die Mediathek und den Kinosaal.

Das Innere als Architekturerlebnis

Auch Rem Koolhaas, der Rotterdamer Architektenstar, will die Seriosität und Beschaulichkeit herkömmlicher Büchereien aufgeben. Im amerikanischen Seattle setzte er einen spektakulären kristallinen Baukörper in die Innenstadt, dessen vielfältiges Inneres als Architekturerlebnis inszeniert ist und die Menschen zum Lesen animieren soll.

In London werden die Stadtteilbibliotheken seit 2002 nach und nach durch „Idea Stores“ abgelöst, die dreimal so viele Nutzer anlocken. Die „Ideen-Läden“ sind Büchereien mit zusätzlichen Funktionen wie IT-Lernnetzwerken, Hausaufgabenbetreuung, Fernstudium, Erwachsenenbildung und Gastronomie. Vom Erscheinungsbild her dem Kaufhaus angeglichen und eingebunden in Szeneviertel und Einkaufszonen wird die Bibliothek zum Alltagskulturträger.

Offenbar haben sich frühere Erwartungen der Kulturtheoretiker, dass der Mensch des digitalen Zeitalters seine Aktivitäten in den virtuellen Raum des Internets verlagern und tendenziell vereinsamen werde, (noch) nicht bestätigt. Weder arbeiten wir heute im papierlosen Büro noch ist das gedruckte Buch aus der Mode gekommen. Und wir haben nach wie vor das Bedürfnis nach persönlichen Kontakten sowie nach Erlebnissen von Orten und Räumen mit allen Sinnen. Aber wenn geschäftliche Kommunikation, Einkaufen und das Leben organisieren zunehmend im virtuellen Raum ablaufen, sind es im Gegenzug die kulturellen Aspekte, die im realen Leben eine immer größere Rolle spielen. Da dieser Sektor eher die Freizeit als die Arbeitswelt betrifft, also die freiwillige, eigenständige Lebensgestaltung, sind jene Orte und Angebote die erfolgreichsten, die Menschen anziehen, die attraktiv und spektakulär sind. Das gilt auch für Büchereien.

Wenn die Bibliothek zum Drehort wird

Im Augenblick kann zwar noch kaum jemand, der über ein älteres Thema, sagen wir der 1950er Jahre, etwas erfahren oder forschen will, auf Bibliotheken verzichten. Denn oft steht die dazu notwendige Literatur eben noch nicht im Netz. Dennoch scheint die Tendenz eindeutig: Recherchiert wird bequemer online von zu Hause oder vom Arbeitsplatz aus. Trotzdem werden noch immer neue Universitäts-, Stadt- und Landesbibliotheken gebaut, und das oft als architektonische Juwele. So errichtete die Stadt Stuttgart im Quartier von Stuttgart 21 nach den Plänen des Koreaners Eun Young Yi einen fremdartigen, abends blau schimmernden Büchertempel mit einem hinreißenden Innenraum, der schon zahlreichen Filmteams als Drehort diente.

Auch Max Dudlers Bibliothek Jakob- und Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte, ein wehrhafter wirkender Ziegelbau direkt am S-Bahn-Viadukt, kann im Inneren mit einem großartigen Architekturerlebnis aufwarten. Neben dem atmosphärisch eindrücklichen Lesesaal gibt es Gruppenarbeitsräume und 54 erstaunlich großzügige Einzelarbeitszellen. Die weiteren der 1100 Arbeitsplätze sind überall im Haus verteilt. Ein Eltern-Kind-Bereich im siebten Stock ist mit Spielzimmer und Kinderbücherei ausgestattet und gibt den Eltern die Möglichkeit, in Ruhe zu studieren.

Diese Bibliotheken sind hervorragend frequentiert

All diesen Büchereien ist gemeinsam: Sie sind hervorragend frequentiert, oft sogar überlaufen. Die Tatsache, dass viele Menschen nur noch im Internet agieren, forschen und publizieren, scheint dem keinen Abbruch zu tun. Sie suchen dennoch den persönlichen Kontakt zu Kommilitonen, nutzen die Arbeitsplätze und die Infrastruktur der Bibliothek und halten sich länger auf als Bibliotheksbenutzer früher.

Der Erfolg der Bibliotheksbauten neuen Typs ist jedenfalls nicht nur der Lust der Architekten zuzuschreiben, neben Konzerthallen und Museen nun auch für diese Bauaufgabe attraktive Bauten zu entwerfen. Es gibt auch Gründe soziologischer Art.

Studenten, aber auch Stadtbewohner aller Schichten suchen Orte, wo sie sich ungezwungen treffen können. Einen solchen Platz könnte man den „Vierten Ort“ nennen. Er ist so etwas wie der „Dritte Ort“, den der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg so genannt und darüber ganze Bücher geschrieben hat. Der Mensch benötige neben Wohnung und Arbeitsstätte auch noch einen Ort, wo er „kommunizieren“ oder wo er „abhängen“ kann. Den Frisör nennt er als Beispiel, den Pub, das Kaffeehaus oder den Buchladen. Ray Oldenburgs „Dritte Orte“ sind indes alle Orte des Konsums. Heute heißen sie Starbucks, Multiplex-Kinos und Shoppingmalls und buhlen um unsere Gunst als Konsumenten.

Angebote, um Jugendliche von der Straße zu holen

Doch was gibt es für Jugendliche, Studenten, aber auch Rentner und Hartz4-Empfänger? Für sie müsste die Gesellschaft den „Vierten Ort“ vorhalten, wo sie sich treffen können, ohne um ihr Taschengeld oder ihr mühevoll gesammeltes Flaschenpfand bangen zu müssen. Wo im Winter geheizt ist und wo man sich austauschen oder, besser noch, etwas Sinnvolles tun kann. Und hier kommt die öffentliche Bibliothek ins Blickfeld.

Sie kann ein solcher Ort sein. Städte, die in jüngerer Zeit eine multifunktionale Bibliothek gebaut haben, freuen sich über deren Erfolg. Die neue Stadtbibliothek in Heidenheim (Architekt Max Dudler) wurde durch den „Non-Book-Bereich“ mit Café, Medienzentrum, Saal, Stadtarchiv und eine interne „Promenade“ zum öffentlichen Ort.

Spezielle Angebote bieten den „Vierten Ort“ für Jugendliche und holen sie von der Straße. Das neue Bildungsforum in Potsdam zum Beispiel mit seinen Räumen mit von Jugendlichen favorisierten Medien schafft das spielend. Dass das (zweifellos nicht billige) Konzept des „Vierten Orts“ von der öffentlichen Hand nicht häufiger und gezielter eingesetzt wird, hat wohl damit zu tun, dass Bildung aus einem anderen Topf bezahlt wird als Jugendrichter, Streetworker und Graffiti-Wegputzer. Denn ganz offenkundig wäre es für die Städte sinnvoller, solche Angebote bereitzustellen, als im Nachhinein soziale Fehlentwicklungen zu reparieren.

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