„Niemand ist auf diesen Tsunami vorbereitet“: Verwirrung um Triage-Verfahren an Universitäts-Klinik in Straßburg
Das Elsass ist das Epizentrum der Coronavirus-Krise in Frankreich. An der Uni-Klinik in Straßburg werden drastische Maßnahmen angewandt. Diese verteidigt sich.
Ein Bericht des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin (DIFKM) in Tübingen über die dramatische Situation durch das Coronavirus im Elsass und insbesondere in der Universitätsklinik Straßburg hat in Frankreich Aufregung ausgelöst - und Widerspruch der Klinik.
Die deutschen Mediziner hatten ihre Erfahrungen nach einem Besuch am 23. März in einem Bericht für den Führungsstab Sars-CoV-2 des Innen- und Sozialministeriums in Baden-Württemberg verfasst und daraus Handlungsempfehlungen für deutsche Krankenhäuser abgeleitet. Das Dokument liegt dem Tagesspiegel vor. Das Elsass gilt als das Coronavirus-Zentrum in Frankreich.
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Die Ärzte des DIFKM schreiben, unter der Annahme, dass sich die Entwicklung, wie sie im Elsass bestehe, bald auch in Deutschland einstellen werde: Eine optimale Vorbereitung sei von „allerhöchster Dringlichkeit“ – wichtig zu sehen sei dabei, „dass das Nadelöhr die zu beatmenden Patienten sind“. Die Dramatik der Lage beschreiben die Mediziner mit dem Satz: „Am 23.03.2020 erfolgte pro Stunde eine Aufnahme eines beatmungspflichtigen Patienten.“
In dem DIFKM-Bericht heißt es, die Universitätsklinik Straßburg habe aus der Lage drastische Konsequenzen gezogen:
- Seit dem 21. März würden Patienten, die älter sind als 80 Jahre, nicht mehr beatmet. Stattdessen erfolge „Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“.
- Wegen der Krise sei die Ethikkommission berufen worden, die in jedem Einzelfall Vorgaben mache.
Nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa vom späten Donnerstagabend gibt die Universitätsklinik nun an, dass das Alter nicht das einzige Kriterium für Intensivmaßnahmen sei. Die an der Universitätsklinik geltenden Praktiken entsprächen den Empfehlungen der gängigen Fachgesellschaften, heißt es demnach in einer Mitteilung. Es würden außerdem neue Kapazitäten im Bereich der Intensivmedizin bereitgestellt, es habe bisher keine Überlastung gegeben.
Der Leiter der chirurgischen Anästhesie, Paul Michel Mertes, verwies Informationen der Nachrichtenagentur epd zufolge auf die medizin-ethischen Kriterien der Klinik. Demnach gehe aus dem Kriterien-Katalog hervor, dass die Entscheidung von dem Schweregrad der Krankheit abhängig gemacht wird und nicht etwa von einer Altersgrenze der Patienten.
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Dagegen bestätigte die Präsidentin des französischen Departements Haut-Rhin (Oberrhein), Brigitte Klinkert, der Zeitung „Die Welt“ am Donnerstag, dass das Triage-Verfahren bereits seit zwei Wochen praktiziert würde, etwa von den Ärzten am Uniklinikum Straßburg.
Patienten über 80, über 75, an manchen Tagen auch über 70 könnten nicht mehr intubiert werden, weil schlicht die Beatmungsgeräte fehlten, sagte die Politikerin. Man könne es gar nicht oft genug sagen, weil sich nicht nur die deutschen Nachbarn, sondern auch die Franzosen außerhalb des Elsass den Ernst der Lage nicht klar machten.
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In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beschreibt Klinkert am Freitag die Dramatik: „Die Bilanz ist bedrückend. Wir zählen in unserem Departement 828 Krankenhausaufenthalte, 104 Personen befanden sich am 25. März auf der Intensivstation. 327 Menschen haben das Krankenhaus verlassen. 239 Personen sind leider in den Krankenhäusern gestorben, zudem 98 Personen in den Seniorenheimen.“
Es fehlten Beatmungsgeräte, außerdem Schutzausrüstung in jeder Hinsicht, Masken, Handschuhe, Brillen, Überzüge, Desinfektionsmittel – und das nicht nur fürs Krankenhaus-Personal, sondern auch für Pflegekräfte außerhalb. „Besonders kritisch ist die Lage in unseren 82 Seniorenheimen mit ihren 7000 Bewohnern.“
Die Coronavirus-Krise sei ein solch extremes und schnell fortschreitendes Phänomen, dass es alle Gesundheitssysteme einer schweren Prüfung unterziehe. „Niemand ist auf diesen Tsunami vorbereitet – nicht in Frankreich, nicht anderswo.“
Ein Sprecher des baden-württembergischen Innenministeriums bestätigte der Nachrichtenagentur epd zufolge den Eingang des Berichts der Mediziner des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin, das auf den 24. März datiert ist. Man nehme das Schreiben sehr ernst und werde es jetzt schnellstens und intensiv auswerten, sagte der Sprecher. Dieser Zustand sei jedoch mit der Situation der Kliniken in Baden-Württemberg nicht vergleichbar, da Deutschland sich sehr früh um eine Eindämmung bemüht habe und die Epidemie in Frankreich weiter fortgeschritten sei.
Doch auch deutsche Ärzte gehen davon aus, dass sich das bald schon ändern wird und auch sie Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen. Das geht aus einem Papier von sieben medizinischen Fachgesellschaften hervor, das am Mittwoch publik wurde und dem Tagesspiegel vorliegt.
Darin heißt es: „Nach aktuellem Stand der Erkenntnisse zur Covid-19-Pandemie ist es wahrscheinlich, dass auch in Deutschland in kurzer Zeit und trotz bereits erfolgter Kapazitätserhöhungen nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen, die ihrer bedürften.“
Weil dadurch Konflikte bei Entscheidungen über intensivmedizinische Behandlungen entstünden, solle die ausgearbeitete Handreichung als Orientierung dienen. „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden“, schreiben die Mediziner.