Bogaziçi-Universität in Istanbul: Verhaftungswelle gegen türkische Studierende
Fast zwei Dutzend Studierende der Istanbuler Bogaziçi-Universität sind nach Protesten gegen den Afrin-Einsatz verhaftet worden – auch weil sich die Studierenden gegenseitig an die Polizei verraten haben.
Mehr als 20 Studierende sind seit Mitte März in Istanbul verhaftet worden. Sie alle besuchen die Bogaziçi-Universität – eine staatliche Elite-Einrichtung, die für ihr freies und kritisches Denken sowie einen hohen akademischen Standard bekannt ist. Die Universität am Bosporus galt in der Türkei als eine der letzten Bastionen intellektueller Entfaltung ohne Angst vor Repressalien. Wer hier studieren möchte, muss Bestnoten vorweisen. Die Studierenden an der Bogaziçi sind sozialistisch, liberal, links, konservativ, kommunistisch, islamisch und Atheisten: „Am Campus geht es um Meinungsfreiheit und Toleranz. Wir nennen das die Bogaziçi-Kultur“, sagt Batu Durmus, der dort Soziologie studiert.
Seit einigen Wochen steht diese Kultur aber unter Beschuss des türkischen Staates: Polizisten kontrollieren den Eingang zur Uni, Beamte patrouillieren in Zivil auf dem Campus und Anti-Terror-Einheiten stürmen Schlafsäle und private Wohnungen.
Auslöser waren Proteste gegen den Einsatz in Afrin
Auslöser für die Verhaftungswelle war eine Studierenden-Aktion zur Einnahme der nordsyrischen Stadt Afrin. „Jetzt weht dort die türkische Flagge!“, hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am 18. März stolz verkündet. Im Zuge der „Operation Olivenzweig“ kämpfen seine Streitkräfte zusammen mit denen der Freien Syrischen Armee seit Ende Januar um die Enklave an der Grenze zur Türkei.
Am Morgen nach Erdogans Kundgabe hatten Studierende aus dem „Klub für islamische Studien“, einer Organisation, die der Regierungspartei AKP nahe stehen soll, auf dem Nordcampus der Bogaziçi-Uni Lokum verteilt. Lokum sind kleinen Zuckerwürfel, eine Delikatesse und auch als „Turkish Delight“ weltberühmt.
Nach eigenen Aussagen wollten die Studenten damit der bei der Militäroffensive gefallenen türkischen Soldaten gedenken. An ihrem spontan errichteten Stand hatten sie einen Zettel angebracht: „Afrin Delight“. Die vermeintliche Nettigkeit wurde aber schnell zum Politikum.
Rangeleien zwischen AKP-Anhängern und -Gegnern
„Immer mehr Studierende haben angefangen, laut über die ’Operation Olivenzweig’ zu diskutieren", sagt Durmus. Schnell habe sich die Studentenschaft gesplittet: „Da war die Lokum-Gruppe, die den Sieg in Afrin feierte, und dann waren da die anderen, die das ethisch nicht korrekt fanden“, erinnert er sich. „Die anderen“, das waren gläubige Muslime, Konservative, Linke, Liberale und Kommunisten – eine in sich sehr heterogene Protest-Gruppe also. „Es geht hier nicht um einen Streit zwischen Liberalen und Konservativen“, sagt Durmus. „Hier stehen AKP-Befürworter auf der einen und der Rest auf der anderen Seite.“
Im Zuge der Offensive sind Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge insgesamt mehrere Hundert Menschen gestorben. „Es gibt kein Delight in einem Massaker und einer Besatzung“, schrieben deswegen die Studierenden der zweiten Gruppe auf ein Transparent. Irgendwann kam es zwischen den beiden Gruppen zu Rangeleien. „Jemand hat wohl gegen den Lokum-Stand getreten“, sagt die Studentin Yaprak Damla Yildirim.
Von der Auseinandersetzung hatten manche Studierende Fotos und Videos gemacht und später bei Twitter hochgeladen. „So haben die Medien davon Wind bekommen, und so konnten Polizisten die Studierenden erkennen und nach ihnen fahnden“, rekonstruiert Yildirim.
23 Studierende wurden in Istanbul verhaftet
Tatsächlich kam es zu Polizeieinsätzen, viele von Yildirims Freunden sind noch immer in Polizeigewahrsam. Von insgesamt 23 Studierenden wurden bislang sechs freigelassen, sieben weitere durften auf Bewährung raus und die übrigen zehn warten auf ihren Prozess. „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ lautet der Vorwurf. Darauf stehen ein bis fünf Jahre Gefängnis.
Die Suche nach weiteren Dissidenten an der Bogaziçi geht unterdessen weiter: „An manchen Abenden patrouillieren Beamte durch Bars in Uni-Nähe und lassen sich Ausweise zeigen“, sagt Durmus. Jeden Tag stehen Polizisten am Uni-Eingang und greifen Studierende ab. „Manchmal verwechseln sie die Menschen auch.“ Die wenigen, die nach Stunden wieder freigelassen wurden, berichteten von massiven Einschüchterungsversuchen und groben, zum Teil gewaltsamen, Verhörmethoden.
„Hier erkennt man die Gesichter besonders gut“, hatten manche Studierende unter Bilder im Internet geschrieben. Für Durmus und Yildirim ist das der wirkliche Skandal. Dass die Regierung sie versucht einzuschüchtern, war für ihn nur eine Frage der Zeit. Aber dass Studierende sich gegeneinander an Presse und Polizei ausliefern, sei neu: „Egal welche Meinung wir vertreten, wir haben immer zusammengehalten.“
Der Staatspräsident ermahnt die Universität
Wenige Tage nach dem Vorfall meldete sich der Staatspräsident zu Wort: „Unsere Jugend wollte Lokum verteilen, aber diese kommunistischen, verräterischen Terroristen haben versucht, ihren Stand kaputt zu machen. Wir werden sie finden und ihnen das Recht nehmen zu studieren.“
An das Kollegium richtete er die Mahnung, künftig mit dem Regime zu kooperieren. Bereits im Januar hatte er betont, dass die Bogaziçi-Universität versagt habe, denn dort berufe man sich nicht auf nationale Werte.
Zu vergleichbar direkten Angriffen auf andere Hochschulen, wie etwa die Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul, ist es in der letzten Zeit zwar nicht gekommen. Viele werden mittlerweile ohnehin von AKP-nahen Rektoren geleitet, andere kooperieren dem Vernehmen nach aus Angst um ihre Jobs mit dem Erdogan-Regime. Die türkische Regierung hat mehrmals ihre strenge Hand gegenüber den Intellektuellen im Lande bewiesen. Angaben des Menschenrechtsbündnisses „Human Rights Joint Platform“ zufolge sind seit dem Putschversuch vor knapp drei Jahren landesweit 5822 Akademiker von staatlichen Hochschulen entlassen worden. Gegen viele wird unter dem Mantel der Terrorismusbekämpfung ermittelt.
„Wer sich gegen Krieg outet, wird als Terrorist beschimpft“
Seit Beginn der Afrin-Offensive sind zudem mehrere hundert Menschen in der Türkei festgenommen worden, weil sie in den sozialen Medien die „Operation Olivenzweig“ kritisiert haben.
Angefeuert durch Erdogans Drohung ist aus dem Lokum-Streit inzwischen eine nationale Terrorismus-Debatte geworden, deren Preis der Zugang zur Bildung sein könnte. „Wer sich gegen Krieg outet, wird als Terrorist beschimpft“, sagt Yildirim. Es ist nicht das erste Mal, dass es am Campus eine politische Auseinandersetzung gibt. „Aber es ist das erste Mal, dass deswegen Studierende festgenommen und als Terroristen angeprangert werden“, klagt Durmus.
Aus Angst vor einer Verhaftung hat auch er ein paar Tage lang die Uni gemieden. Damit ist jetzt Schluss: „Wir werden nicht aufgeben, für unsere Werte einzustehen.“
Marion Sendker