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Essen ohne schlechtes Gewissen. Viele Veganer haben sich für diesen Lebensstil entschieden, um einen ethischen Konflikt mit der Tierhaltung zu vermeiden.
© p-a/dpa/D. Bockwoldt

Rein pflanzlich: Veganer müssen Ernährungsexperten sein

Wer dauerhaft auf alle tierischen Nahrungsmittel verzichten will, sollte seine Speisen umsichtig planen. Andernfalls drohen schwere Mangelerscheinungen.

Leben wir in einem Land, in dem die Bürger immer häufiger nicht nur auf Fleisch, sondern auf alle tierischen Produkte verzichten wollen? Wer das Angebot an Kochbüchern sichtet, kann diesen Eindruck gewinnen: 119 Neuerscheinungen mit veganen Rezepten kamen 2015 auf den Markt, vor fünf Jahren waren es nur drei. Nach Angaben des Vegetarierbundes Deutschland (VeBu) kamen hierzulande 2015 mehr vegane Produkte neu auf den Markt als in jedem anderen europäischen Staat. Rund 900 000 Menschen sollen sich hierzulande vegan ernähren, heißt es beim VeBu.

Die Kochbücher indes dürften auch von Menschen gekauft werden, die trotzdem Fleisch, Fisch, Eier und Milchprodukte zu sich nehmen. Zum Beispiel von Müttern und Vätern, in deren Haushalt eine Teenager-Tochter lebt – zwei Drittel der Veganer sind weiblich –, die keine tierischen Produkte essen möchte. Einen Speiseplan aufzustellen, mit dem auch die Eltern und Geschwister zufrieden sind, wird für diese Familien täglich zur neuen logistischen und emotionalen Herausforderung.

Fachkundige Beratung ist nötig

Dazu kommt die Sorge um die Gesundheit der vegan lebenden Familienmitglieder. Fest steht: Wer nicht nur Fleisch, sondern auch Milchprodukte und Eier vom Speiseplan streicht, muss mehr über dessen Zusammensetzung nachdenken. „Man muss sich belesen“, sagt Jörg-Dieter Schulzke, Leiter des Instituts für Klinische Physiologie der Charité in Berlin.

Anlässlich der Tagung Viszeralmedizin 2016, zu der sich auf den Verdauungstrakt spezialisierte Ärzte jetzt in Hamburg trafen, bezeichnete der Ernährungsmediziner die fachkundige Beratung als genuin ärztliche Aufgabe. Zum Beispiel sei es wichtig, beim Öl für Abwechslung zu sorgen und nicht nur Olivenöl zu sich zu nehmen. Für eine ausreichende Versorgung mit Omega-3-Fettsäuren empfehle sich Leinöl.

Der kritischste Punkt ist aber die Versorgung mit dem Vitamin B12, das in Fleisch und Milch enthalten ist. „Zwar können auch auf der Oberfläche pflanzlicher Nahrungsmittel vorhandene Bakterien das Vitamin bilden, doch bei der klassischen Nahrungszubereitung gelangt es meist nicht in ausreichender Menge zum Konsumenten“, sagt Schulzke. Man kann es sich aber durch spezielle nicht tierische Lebensmittel wie Algen zuführen, was viele Veganer tun. Auch ohne solche Vorsichtsmaßnahmen muss man sich zunächst keine Sorgen um seinen Vitamin-B12-Haushalt machen, denn der Speichervorrat in der Leber hält lange vor. „Oft ist er erst nach Jahren leer“, sagt Schulzke. Zu testen, wie es aktuell um den Vorrat steht, ist allerdings nicht so einfach möglich. Ein einfacher Bluttest ist nicht aussagekräftig genug, und Stoffwechseluntersuchungen sind zu aufwendig.

Das Vitamin B12 sollte zusätzlich eingenommen werden

Schulzke empfiehlt allen, die sich langfristig völlig ohne tierische Produkte ernähren, das Vitamin einzunehmen – im Zweifelsfall in unnötig hoher Dosis. Auch die Versorgung mit Kalzium könne problematisch werden, wenn Milchprodukte gemieden werden, und auch hier sei eine Bestimmung des Blutspiegels nicht sehr aussagekräftig. Auf jeden Fall ist es leichter, den Körper mit genügend Eisen und Zink zu versorgen, wenn man Tierisches nicht völlig ausklammert. Denn in pflanzlichen Nahrungsmitteln sind Polyphenole und Phytinsäure enthalten, die die Aufnahme der Spurenelemente hemmen.

„Zink ist bei Untersuchungen zu den Auswirkungen einer veganen Ernährung das Spurenelement, für das am häufigsten ein Defizit gefunden wurde“, berichtet Schulzke. Eine finnische Studie fand zudem bei Veganern niedrigere Selen-Spiegel. Auch um sich ausreichend mit Proteinen zu versorgen, müssen Veganer umsichtig planen. Fehlen essenzielle Aminosäuren, so ist das vor allem für Kinder gefährlich, die sie für ihr Wachstum brauchen. Der Mediziner warnt vor einem B12-Mangel bei Kindern, deren Mütter sich während der Stillzeit vegan ernähren. „Die Auswirkungen sind schwere neurologische Defizite“, sagt Schulzke.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät Kindern, Jugendlichen und Schwangeren ab

In der genannten finnischen Studie zeigten sich aber auch günstige Auswirkungen der rein pflanzlichen Ernährung, vor allem bei den Blutfetten. „Eine vegane Langzeitdiät war mit einigen günstigen Laborwerten verbunden, allerdings auch mit zu niedrigen Konzentrationen einiger Schlüssel-Nährstoffe“, resümieren die Autoren. Die Ergebnisse belegten, dass vor allem Menschen, die langfristig vegan leben wollen, konkrete Ernährungsempfehlungen brauchen.

Darauf dringt auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. In einem Positionspapier hebt sie hervor, dass großes Wissen erforderlich sei, um Nährstoffmangel zu vermeiden. Mehr noch, die Gesellschaft rät von veganer Ernährung in Schwangerschaft und Stillzeit sowie im gesamten Kinder- und Jugendalter ab.

Nach Angaben des VeBu fassen täglich 200 Menschen in Deutschland den Entschluss, künftig vegan zu leben. Längst nicht alle werden auf Dauer dabei bleiben. Die Agrarökonomin Meike Janssen von der Universität Kassel und ihre Kollegen haben für eine Studie, die gerade in einer Zeitschrift mit dem schönen Titel „Appetite“ erschienen ist, 329 Kundinnen und Kunden von spezialisierten veganen Supermärkten in deutschen Städten befragt. Jeder Achte von ihnen lebte noch kein Jahr streng vegan, im Durchschnitt hatten die Befragten zwei Jahre keine tierischen Produkte mehr gegessen.

Häufigstes Motiv für veganen Lebensstil ist Sorge um das Tierwohl

Unter denjenigen, die mehr als sechs Jahre vegan lebten, waren besonders viele, deren einziges Motiv der Tierschutz war. Dieser Grund wurde insgesamt mit Abstand am häufigsten genannt. Neben der Sorge um das Wohl der Tiere und der Ablehnung der landwirtschaftlichen Praktiken führten sie prinzipielle ökologische Erwägungen und die eigene Gesundheit ins Feld. Und hier besonders den Wunsch, durch Verzicht auf Butter, Wurst und Fleisch abzunehmen.

Dabei fällt auf: Über 80 Prozent der Befragten nannten mehr als ein Motiv. Die meisten von denen, die mehrere Begründungen vortrugen, waren noch nicht so lange Veganer. Ob das einen Einfluss darauf hat, wie lange er oder sie einen veganen Lebensstil praktiziert, dazu gibt es noch keine Untersuchung. Da das Thema aber gerade ziemlich boomt, dürften bald entsprechende Daten dazu vorliegen.

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