Spezial: Insektensterben: Summer, kommt bald wieder
Es wird Winter, die Insekten verschwinden. Dass sie im Frühjahr in Massen zurückkommen, ist nicht selbstverständlich. Die Suche nach Lösungen hat begonnen.
Albert Einstein hat sich nicht nur über Physik Gedanken gemacht. Eine seiner am häufigsten zitierten angeblichen Weisheiten war eine biologische: „Wenn die Biene von der Erde verschwände, würden der Menschheit nicht mehr als vier Jahre zum Leben bleiben“, soll er gesagt haben. Denn: „Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Menschen mehr.“
Tatsächlich ist das angebliche Einstein-Zitat kein Einstein-Zitat, jedenfalls findet es sich nirgends dokumentiert. Schade eigentlich. Denn wäre es authentisch, könnte die Überschrift dieses Artikels endlich einmal lauten: „Einstein widerlegt!“, weil die weisen, dem Genie in den Mund gelegten Worte, nicht einmal stimmen. Zwar hätte ein Verschwinden der Bienen ökologisch massive Auswirkungen. Und ausbleibende Bestäuber zwingen Landwirte schon heute, nach Alternativen zu suchen. Selbst Drohnen für diesen Zweck – ironischerweise ein von den eher wenig Bestäubungsarbeit leistenden männlichen Honigbienen abgeleiteter Begriff – sind bereits in der Planung.
Aber dass es ohne Bienen keine Bestäubung mehr gäbe, wäre schlicht nicht korrekt. Denn vielen Pflanzen wird von Wind über Schmetterlinge, Fliegen und Käfer bis hin zu Vögeln und Fledermäusen und von anderen Akteuren bei der sexuellen Fortpflanzung geholfen. Auch Selbstbestäubung kommt häufig vor. Und manche Nahrungsmittelpflanzen – unter ihnen nicht ganz unwichtige wie Kartoffeln, Zwiebeln und Maniok – werden, wenn es nicht gerade um Züchtung neuer Sorten geht, über Wurzeln, Knollen und Stecklinge vermehrt. Und Wurzeln und Knollen werden bei ihnen auch verzehrt, und nicht etwa auf Bestäubung angewiesene Früchte.
Der argentinische Bienenexperte Marcelo Aizen schätzt sogar, dass, wenn plötzlich die Bestäuber aus dem Tierreich fast völlig ausfielen, die weltweite Nahrungsmittelproduktion nur um sechs Prozent sinken würde.
"Die Honigbiene wird das letzte Insekt sein, das ausstirbt"
Hätte Einstein wirklich jene Bienen-Theorie aufgestellt, hätte man den Physiker auch fragen müssen, wie er den Terminus „Bienen“ denn exakt definiert. Hätte er dann „Honigbienen“ gesagt, hätte das seinen Genius noch weiter relativiert. Denn ohne Honigbienen würde die Menschheit allenfalls den Honig verlieren. Die Bestäubung wäre durch etwa 20.000 bekannte und eine unbekannte Zahl noch gar nicht beschriebener Bienenarten jedenfalls gesichert – zumindest solange diese nicht auch bedroht wären.
Schlagzeilen, dass ein „Bienensterben“ die gesamte Menschheit gefährdet, und dass die sterbenden Bienen die Honigbienen sind, hat die Menschheit vor allem einer besonderen Gruppe Menschen zu verdanken. Den Imkern und ihrer Lobbyarbeit. Schon das Einstein-Zitat, das keines ist, wurde wahrscheinlich für eine Kampagne US-amerikanischer Bienenhalter schlicht erfunden. Tatsächlich haben Imker immer wieder mit Problemen zu kämpfen. Am Ende manchen Winters ist bei einigen von ihnen eins von drei Völkern tot. Aber, so sagt Peter Rosenkranz, immerhin Leiter der baden-württembergischen Landesanstalt für Bienenkunde und Dozent an der Uni Hohenheim: „Die Honigbiene wird das letzte Insekt sein, das ausstirbt“ – solange es Imker gibt.
Insektenschwund - lange Zeit erahnt aber nicht gemessen
Im Stillen, und lange Zeit wenig bemerkt – weil die Lobbyarbeit fehlte – wird aber bei den Insekten seit Jahrzehnten wirklich gestorben. Derselbe Peter Rosenkranz etwa sagt, es gebe bei den Wildbienen „offensichtlich einen wirklich dramatischen Rückgang an Arten- und Individuenzahl“.
Als Ursachen werden von Pestiziden über eingeschleppte Krankheiten bis hin zu Klimawandel und Verlust an Lebensraum und Verbindungen zwischen Lebensräumen die verschiedensten Faktoren vermutet. Bei anderen Gruppen von Insekten ist es ähnlich. Aber weil Käfer keinen Honig machen, es keine Landesanstalten für Mottenkunde gibt, sich mit Köcherfliegen nur eine Handvoll Experten auskennt und die meisten bei Staubläusen eher an Loriot als an echte Tiere denken, fehlen noch immer ausreichend Daten. Und die Ironie ist offensichtlich, wenn ausgerechnet einer der sichtbarsten Insektenkiller als Beleg herangezogen wird: das sogenannte „Windschutzscheibenphänomen“: Die Windschutzscheiben von Kraftfahrzeugen, sie bleiben seit Jahren zunehmend von den zermatschten sterblichen Überresten der fliegenden Sechsbeiner verschont.
Die besten wissenschaftlichen Daten zum Zustand der Insekten in Deutschland insgesamt stammen zwar nicht von Autoscheiben, aber bezeichnenderweise aus einem Hobbyforscher-Projekt, der „Krefelder Studie“. Dort stellen Freizeit-Insektenkundler seit vielen Jahren in der Gegend um die Stadt am Niederrhein – und seit nicht ganz so vielen Jahren auch anderswo – Insektenfallen auf. Sie zählen dann, was sich in ihnen fängt. Ergebnisse, veröffentlicht im vergangenen Jahr, zeigen an manchen Stellen Rückgänge von bis zu 80 Prozent. Das sorgte für Aufmerksamkeit und Besorgnis, wurde aber auch kritisiert, unter anderem, weil diese dramatischen Zahlen nur von einzelnen Sammelpunkten kamen.
Jedermann soll Insekten zählen
Der Naturschutzbund Deutschland versucht seit vergangenem Sommer, mit Hilfe von Laien hier zumindest ein wenig Abhilfe zu schaffen. Im Projekt „Insektensommer“ sollen für je eine Woche im Juni und August Interessierte für je eine Stunde Insekten im Umkreis von zehn Metern suchen, möglichst identifizieren, und zählen. „Wir wollen versuchen, Tendenzen aufzuzeigen: Wo werden bestimmte Insektengruppen weniger, wo vielleicht auch wieder mehr, wie sieht es verteilt über die Bundesländer aus?“ sagt Daniela Franzisi, Insektenkundlerin bei der Naturschutzorganisation.
Dass es unmöglich ist, dadurch an detaillierte Daten für viele der immerhin 33.000 Insektenarten in Deutschland zu kommen, ist auch dem Nabu klar. Personen, die einfach nur mitmachen wollen, aber wenig Ahnung von der Bestimmung von Insekten haben, könnten nur einen begrenzten Beitrag leisten, sagt Franzisi: „Wir konzentrieren uns deshalb auf 16 Arten, die noch relativ häufig vorkommen und die auch relativ leicht zu identifizieren sind.“
Der Nabu stellt eine App für das Smartphone zur Verfügung, auf der die Tiere abgebildet sind. Zudem kann man Fotos machen und sie von einer Erkennungssoftware, die immerhin schon 120 Arten abdeckt, scannen lassen. Im Idealfall spuckt diese dann eine relativ sichere Bestimmung aus. Und auch noch eine weitere Stufe hat das Projekt: Fotos können auch an die Hobbyforscher-Plattform „naturgucker.de“ geschickt werden. Dort können Leute mit etwas mehr Expertise das Tier vielleicht identifizieren. Deren Ressourcen allerdings sind begrenzt.
Die ersten Ergebnisse der beiden Zählwochen 2018 bestätigen, dass mit wissenschaftlich wertvollen Daten hier nicht zu rechnen ist: Ackerhummel, Kohlweißling und Honigbiene waren die meistgemeldeten Insektenarten. Zu denen, die weniger werden, ist aus der Nabu-Aktion praktisch nichts zu erfahren. Das wird auch im kommenden Jahr nicht anders sein.
Die rote Liste bedrohter Arten ist bereits voller Insekten
Insektenkundler wie etwa der Direktor des zur Senckenberg-Gesellschaft gehörenden „Deutschen Instituts für Entomologie“ in Müncheberg, Thomas Schmitt, hoffen ohnehin eher darauf, dass ein solches Mitmachprojekt Bürger mobilisiert und sie „für das Thema sensibilisiert“.
Langfristige und detailliertere, von Fachleuten begleitete Bestandsaufnahmen fordern nicht nur Wissenschaftler, sondern auch etwa Vertreter der Agrarwirtschaft. Deren Praktiken werden als wichtiger Auslöser zurückgehender Insektenzahlen vermutet. Doch ihre Lobbyisten verweisen immer wieder darauf, dass für Schuldzuweisungen jede wissenschaftliche Grundlage fehle.
Doch es tut sich etwas. Am 7. und 8. November trafen sich Insektenkundler in Bonn auf einer vom Bundesamt für Naturschutz organisierten Konferenz. Anhand der vorhandenen Daten stellten sie auf einzelne Arten und Insektengruppen bezogene Auswertungen vor. Sie diskutierten auch über die Ursachen und Ausmaße der von ihnen teils „dramatisch“ genannten Entwicklungen. Starke Rückgänge sind demzufolge in allen bislang untersuchten Insektengruppen der Hautflügler, Fliegen, Käfer und Schmetterlinge in Schutzgebieten zu verzeichnen. Köcherfliegen, deren Larven sich im Wasser aus Erde, Holz, Steinchen und Sand teils skurrile Behausungen bauen, waren traurige Spitzenreiter. Bei 96 Prozent ihrer Arten stellten die Experten deutliche Rückgänge fest.
Ein koordiniertes, standardisiertes und professionelles Monitoring wird derzeit durch das Bundesamt für Naturschutz vorbereitet. Der Start ist für 2019 geplant. An mehr als 1000 repräsentativ ausgewählten Orten sollen Fallen aufgestellt werden. Echte Experten – die ihrerseits inzwischen selten geworden sind – sollen Tiere bestimmen und zählen. Wie bei fast aller ernsthaften ökologischen Wissenschaft wird es Jahre brauchen, allein damit Trends für einzelne Arten und Gruppen sichtbar werden. Wenn es auch so lange oder noch länger dauert, bis die Tiere wirksamer als jetzt geschützt werden, könnte es für viele Spezies zu spät sein. Mehr als 7000 der 33 000 in Deutschland registrierten Insektenarten stehen schon jetzt auf der Roten Liste.
Ein „Aktionsprogramm Insektenschutz“, das von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) im Oktober vorgestellt wurde, soll mit 100 Millionen Euro pro Jahr ausgestattet werden, ein Viertel davon wiederum für Forschung und Monitoring. Das Ministerium muss sich dafür mit dem für Landwirtschaft abstimmen. Dessen Ressortchefin Julia Klöckner (CDU) hat zumindest Bienen bereits als „systemrelevant“ bezeichnet. Ein Beschluss im Kabinett ist aber erst für 2019 geplant. Und Erfolg ist – auch, weil wissenschaftlich vieles noch unklar und eine den Namen verdienende Agrarwende fern ist – nicht garantiert. Aber, wie schon Einstein – diesmal tatsächlich – sagte: „In allen Schwierigkeiten liegen immer auch Möglichkeiten.“
Die gezeigten Insekten-Bilder stammen aus dem Buch „Wandlungskünstler. Die geheime Erfolgsgeschichte der Insekten“, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg, 2018, 120 Seiten, 24,90 Euro.