Insektensterben in Deutschland: Unheil im Anflug - für uns alle
Insekten sterben massenhaft. Sollte der Grund unsere landwirtschaftliche Praxis sein, dann tragen auch wir Verbraucher eine Mitschuld. Ein Kommentar.
Auf jeder Fahrt in den Sommerurlaub klebten sie zu Dutzenden auf der Windschutzscheibe unseres Opel Kadett. Heute, 40 Jahre später, bleibt die Sicht erstaunlich oft frei. Um 76 Prozent ist die Biomasse an Fluginsekten zwischen 1989 und 2016 in Nord- und Nordwestdeutschland zurückgegangen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die britische, holländische und deutsche Forscher veröffentlicht haben.
Es besteht also Grund zur Sorge. Denn so lästig Insekten in der Cola oder auf der Windschutzscheibe sein mögen, so zentral und unverzichtbar ist ihre Rolle in den Ökosystemen. Über die Hälfte aller Vögel ist auf Fluginsekten als Nahrungsquelle angewiesen, 80 Prozent aller Pflanzen werden von den fliegenden Sechsbeinern bestäubt – auch Nutzpflanzen, die Grundlage unserer Ernährung. Fehlen Insekten, verschwinden unweigerlich auch andere Arten. Am Ende dieser Kettenreaktion könnte der Zusammenbruch ganzer Ökosysteme stehen.
Ob es auch am Klimawandel liegt, ist noch unklar
Beunruhigend ist das vor allem deshalb, weil die Ursachen für den Rückgang der Insekten alles andere als klar auf der Hand liegen – auch wenn in den vergangenen Tagen reflexartige Schuldzuweisungen an die Landwirte die Regel waren. Sie seien es, die nicht nur Pestizide über die Felder sprühen, sondern auch noch die letzten Hecken und Rückzugsgebiete für Insekten am Feldrand, auf Brachland oder Wiesen umpflügen.
Doch das ist Ideologie, kein Wissen: Die Studie – die übrigens die Insektenmengen in 63 Naturschutzgebieten, nicht in extensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten gemessen hat – gibt solche Schlussfolgerungen nicht her. Den Forschern fehlen schlicht noch Daten, um zu belegen, ob veränderte Land-, Insektizid- und Düngemittelnutzung die Ursache des Insektensterbens ist oder ob andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen – etwa die Klimaerwärmung.
Die Suche nach den Ursachen ist dabei kein Selbstzweck. Nur wer sie kennt, kann wirklich wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen. Nur zu glauben, sie zu kennen, hilft nicht. Es könnte sogar zu falschen, der Umwelt zusätzlich schadenden Maßnahmen führen.
Andererseits: Nur zu warten, bis Forscher bessere Ergebnisse vorlegen, kann angesichts der Dynamik des Insektensterbens auch nicht der richtige Weg sein. Die Gesellschaft und ihre staatlichen Institutionen müssen nach dem Vorsorgeprinzip handeln. Vorsorge bedeutet aber nicht gutgläubiges Reglementieren vermeintlich „Schuldiger“. Was immer wir jetzt tun, wir Konsumenten, wir Städter, schulden den Produzenten unseres täglichen Brotes Respekt.
Raubbau an der Natur durch Griff zu billigen Produkten
Denn selbst wenn sich herausstellt, dass die jahrzehntelange landwirtschaftliche Praxis ein Hauptverursacher des Massensterbens der Insekten ist, dann tragen nicht allein Landwirte, sondern wir alle die (Mit-)Schuld, die wir mit unserem steten Griff nach dem billigeren Brot und dem billigeren Schnitzel den Raubbau an der Natur mit vorangetrieben haben.
Nicht allein „die Bauern“, sondern wir alle müssen uns Gedanken darüber machen, welchen Preis wir für eine gesunde Natur zahlen wollen: Entweder in Form zusammenbrechender Ökosysteme und anschließender Hungersnöte. Oder wir entschließen uns endlich, Landwirten durch faire Mindestpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse erst den Spielraum und dann die Spielregeln für eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion zu geben.