Zwangsarbeit im deutsch-polnischen Grenzgebiet: Spurensuche an Hitlers polnischer Autobahn
Regionalhistoriker dokumentieren Zwangsarbeit an der Trasse der Reichsautobahn von Frankfurt (Oder) nach Posen. Die zumeist jüdischen Opfer waren lange vergessen, ihre Lager unbekannt.
„Die Menschen haben keine Ahnung, was in diesen Wäldern geschah“, sagt Slawomir Milejski. Der Mittdreißiger steht unweit des Dorfes Lagow in einer breiten Schneise am Waldrand. Zwischen einem Maisfeld links und einem aufgeschütteten Wall rechts zeigt Milejski mit weit ausgebreiteten Armen die hier einst angelegte Trasse der Reichsautobahn (RAB) zwischen Frankfurt (Oder) und Posen. Es waren Ghettohäftlinge, die den Wald Anfang der 1940er Jahre rodeten, den Mutterboden abtrugen und die Trasse mit schweren Walzen planierten.
„Es fehlte nur noch die Betondecke“, sagt Milejski. Im Sommer 1942 wurden die Arbeiten angesichts der gescheiterten Blitzkriegsstrategie der deutschen Wehrmacht abgebrochen. Der Autobahnbau galt nun nicht mehr als unmittelbar kriegswichtig. Doch schon in den 50er Jahren wurde der Abschnitt zwischen Frankfurt und Rzepin auf der von den Zwangsarbeitern vorbereiteten Trasse und unter Verwendung der von ihnen gegossenen Brückenfundamente fertig gestellt.
2012 wurde die Autobahn auf der Trasse aus der NS-Zeit vollendet
Pläne zur Verlängerung bis Posen/Poznan wurden im Verlauf der 90er Jahren wieder aufgenommen und 2012 als „Autobahn der Freiheit“ weitgehend auf dem Trassenverlauf aus der NS-Zeit vollendet. Das Teilstück bei Lagow ist eines der wenigen, das aus Naturschutzgründen um einige Kilometer verschwenkt wurde.
Die topografischen und materiellen Spuren aus den 40er Jahren, die Hobbyhistoriker Slawomir Milejski akribisch dokumentiert, sind in den Jahrzehnten überwuchert. Doch immer wieder findet er Fundamentreste der Lagerbaracken, Scherben des Essgeschirrs oder Kleidungsbestandteile der Zwangsarbeiter, eingewachsenen Stacheldraht der Lagerzäune in alten Kieferbäumen.
Die große Geschichtsschreibung hat die 37 Lager nicht erforscht
Nahezu ausgelöscht ist dagegen die Erinnerung an die leidvolle Vorgeschichte der heutigen Autobahn nach Poznan. Die große Geschichtsschreibung hat sich bislang weder in Deutschland noch in Polen für die mindestens 37 RAB-Lager interessiert. Was man heute darüber weiß, ist einigen wenigen Lokal- und Regionalhistorikern zu verdanken.
Slawomir Milejski versteht sich als Einzelkämpfer. Doch bei seinem Plan, für Einheimische und Besucher sichtbare Erinnerungszeichen an die Lager, die Autobahntrasse und die Schicksale der Zwangsarbeiter zu schaffen, hat er Verbündete – von polnischer und deutscher Seite. In Lubon, der Nachbarstadt von Poznan, existiert ein kleines Museum im einstigen nationalsozialistischen Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager Posen. Direkt an der alten und neuen Trasse der Autobahn gelegen, unweit eines einstigen Autobahnlagers, ist es gleichzeitig der bislang einzige offizielle RAB-Gedenkort in Polen.
Regionalhistoriker wollen Anwohner und Reisende informieren
Von deutscher Seite engagiert sich ein Forschungsprojekt zur Zwangsarbeit an der Reichsautobahnbaustelle unter der Leitung des Historikers Matthias Diefenbach. Er ist Mitbegründer und Mitarbeiter des Instituts für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder), einer Initiative ehemaliger Studierender der dortigen Europa-Universität. Die Spurensuche entlang der RAB-Trasse, an der auch die Gedenkstätte Zabikowo beteiligt ist, wird aus Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit finanziert.
Demnächst will das Projekt seine Ergebnisse in einer bebilderten Broschüre veröffentlichen. Zugleich entsteht ein Audioguide, der interessierte Anwohner und Reisende im Grenzgebiet mit der dramatischen Geschichte dieses Autobahnabschnitts vertraut macht. Vorgestellt wurde das Projekt unlängst bei einer Journalistenreise entlang der Trasse.
Dass das seit 1933 mit großem propagandistischen und finanziellen Aufwand betriebene „Unternehmen Reichsautobahn“ ins besetzte Großpolen ausgedehnt werden sollte, war Hitlers Strategen schon vor dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 klar. Die Planungen übernahm der Generalinspekteur für das Verkehrswesen, Fritz Todt.
Tausende starben an Hunger, Kälte, Epidemien und Todesstrafen
Im Herbst 1940 begann die Rekrutierung der Zwangsarbeiter im Ghetto von Lodz. Im Dezember wurden die ersten 638 jüdischen Häftlinge in Lager entlang der geplanten Trasse gebracht. Durch die RAB-Lager gingen etwa 10.000 Menschen, unter ihnen auch nicht jüdische Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiter aus allen besetzen Ländern. In diesen eilig auf beschlagnahmten Feldern oder Waldstücken errichteten Ansammlungen einstöckiger Holzbaracken starben Tausende an Hunger, Kälte, Epidemien, durch Arbeitsunfälle, Misshandlungen und willkürlich verhängte Todesstrafen.
Lagow, ein idyllisch zwischen zwei Seen liegendes Dorf im früheren Ostbrandenburg, war schon vor 75 Jahren ein beliebter Erholungsort. Was die Dorfbewohner und Touristen damals vom nahen Lager und von der Autobahnbaustelle mitbekamen, ist nicht überliefert. Doch Lokalhistoriker Slawomir Milejski hat eine Quelle: die Erzählungen seiner Mutter über das, was sein Großvater Edmund Napierala gesehen hat. Geboren in einer polnischen Familie in Herne/Westfalen, war er nach Polen zurückgekehrt, hatte 1939 gegen die Deutschen gekämpft, wurde gefangen genommen und kam in ein Lager bei Fürstenberg an der Oder. Von dort aus teilte man ihn einem deutschen Bauern in Lagow als „Ostarbeiter“ zu. Dieser Landwirt versorgte das Wachpersonal im RAB-Lager mit frischer Milch.
"Autobahn der Freiheit": Ein Zeichen historischer Unkenntnis
Den Pferdewagen lenkte Napierala, vorbei an den Kolonnen der ausgemergelten Zwangsarbeiter auf dem Weg zur Trasse, hinein ins Lager. Nach dem Krieg blieb Napierala in der Gegend, gründete eine Familie – und schwieg nicht über das, was er gesehen hatte. „Mein Großvater wollte, dass sich künftige Generationen an diese Zeit und ihre Opfer erinnern“, sagt Slawomir Milejski.
Für den Frankfurter Historiker Matthias Diefenbach ist die heutige Bezeichnung „Autobahn der Freiheit“ ein „deutliches Zeichen historischer Unkenntnis“. Die Geschichte der RAB-Lager sei im scheinbaren Niemandsland der drei Geschichtsräume im historischen deutsch- polnischen Grenzgebiet untergegangen.
Erinnerung an jüdische Zwangsarbeiter wurde verdrängt
Potenzielle Zeitzeugen im besetzten Großpolen waren die polnischen Nachbarn der Lager, die vor Ort blieben. Doch die Erinnerung an die jüdischen Zwangsarbeiter wurde im Nachkriegspolen eher verdrängt als aufgearbeitet. Im zweiten Raum, der ehemaligen Neumark, die heute zur Wojewodschaft Lubuskie gehört, fand ein fast kompletter Bevölkerungsaustausch statt: Die Deutschen flohen und wurden vertrieben, die dorthin ziehenden Polen konnten mit den Überresten der Lager nichts anfangen. Ein Zeitzeuge wie Milejskis Großvater ist die ganz große Ausnahme.
Der dritte und kleinste Bereich der damaligen Autobahnbaustelle bei Frankfurt (Oder)-Güldendorf am Oder-Ufer, wo es drei Lager gab, blieb deutsch. Die Bewohner seien aber in der DDR von einer „speziellen Erinnerungspolitik“ geprägt worden, die die jüdischen Opfer ebenfalls weitgehend ausschloss, sagt Diefenbach. Seine eigene Großmutter stamme aus dem Grenzgebiet und müsste von dem RAB-Lager in Schwetig/Swiecko gewusst haben – wobei sie dies bestritten habe. Auch Diefenbach ist also ein Aufklärer der eigenen familiären Vergangenheit, den die Schicksale der Zwangsarbeiter nicht loslassen.
Ein Zeitzeuge: "Sie haben nach Brot gefleht, wenn man vorbei ging"
Ähnlich geht es Boleslaw Lisek aus Wasowo in Großpolen, dem einzigen direkten Zeugen, den Diefenbach ausfindig machen konnte und der auskunftswillig ist. Auf einem Acker seines Vaters errichteten die Deutschen im April 1941 ein RAB-Lager für 300 jüdische Zwangsarbeiter.
„Sie haben nach Brot gefleht, wenn man vorbei ging“, erzählt der heute 89-jährige Lisek. Es sei aber unmöglich gewesen, sich dem Zaun zu nähern und etwas hindurchzustecken, die Wachen hätten jeden verscheucht. Doch sein Vater musste die Toten des Lagers mit dem Leiterwagen zum nächsten Friedhof fahren, und einmal, als der Vater schwer krank war, hat der fast 12-jährige Boleslaw ihn vertreten. Ein traumatisches Erlebnis? „Nein“, sagt Lisek, „als Junge hat man so was einfach gemacht.“
Ein Gedenkstein am Rand des Ackers der Familie Lisek
Die Lagerbesatzung zog 1943 ab, Lisek blieb – und mit ihm die Erinnerung an das Lager, über die er lange mit niemandem habe sprechen können. Bis er Mieczyslaw Janas kennenlernte, einen 25 Jahre jüngeren Lokalforscher aus Wasowo. Ihm ist schon gelungen, wovon Slawomir Milejski in Lagow noch träumt: Janas errichtete anlässlich der Eröffnung der „Autobahn des Friedens“ einen Gedenkstein am Rand des Ackers der Familie Lisek. Er erinnert die Dorfbewohner und zufällige Passanten an das Lager und an die Opfer des historischen Autobahnprojekts.