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Gedenken. Ein früherer Gefangener des Ghetto Minsk hält 2011 eine Kerze, um an zwei Insassinnen des Lagers zu erinnern. 1941 brachten die ersten Züge Juden aus Berlin Richtung Minsk, die NS-Gauleiter drängten auf schnelle Deportationen.
© AFP

Als die Nazis Juden ins Ghetto Minsk deportierten: „Die Zivilisation fällt ab wie Blätter im Herbst“

Die Nazis deportierten tausende Berliner Juden ins Ghetto Minsk. Lebensschicksale der Verfolgten und Ermordeten wurden jetzt erstmals aufgearbeitet.

„Ach, man möchte sich so gern retten und noch einmal ein neues Leben beginnen! Die Aussichtslosigkeit macht uns immer verzweifelter, und dazu nagt noch die Sehnsucht nach unserem einzigen Kinde an unseren Herzen!“, schrieb Erna Flanter am 22. März 1939. Zusammen mit ihrem Mann Wilhelm hatte sie in Berlin erfolgreich eine Kette von Buchläden und Leihbibliotheken betrieben, zu der in der besten Zeit sieben Filialen gehörten, unter anderem am Friedrich-Karl-Platz 5 in Charlottenburg. 1937 war Wilhelm Flanter aus der Fachgruppe Buchhandel der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden, weil er Jude war, und im Zuge des Novemberpogroms 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt.

Die Tochter reist nach England - ihre Eltern sieht sie nie wieder

Die Verhaftung erschütterte die Familie. Als in der Schule gefragt wurde, ob jemand mit einem Kindertransport nach England ausreisen wolle, meldete sich die 13-jährige Tochter Susanne, ohne ihre Mutter zu fragen. Zwei Wochen vor Susannes Abreise im Januar 1939 kehrte der Vater als gebrochener Mann aus dem Konzentrationslager zurück. Ihre Eltern sah Susanne nie wieder. Am 13. November 1941 mussten sich Erna und Wilhelm Flanter in der Sammelstelle in der Synagoge Levetzowstraße mit ein paar Habseligkeiten einfinden. Tags darauf wurden sie mit rund tausend anderen Berliner Jüdinnen und Juden vom Bahnhof Grunewald nach Minsk deportiert, wo sie den Tod fanden.

Wir kennen Zahlen, wir wissen die meisten Namen, aber bislang war kaum etwas bekannt über die Biografien, die Familien, die Arbeits- und Lebenswelten dieser Menschen in Berlin. Eine Gruppe von Studentinnen und Studenten an der Humboldt-Universität zu Berlin hat es sich seit dem Herbst 2009 zur Aufgabe gemacht, die Lebensschicksale der Berliner Jüdinnen und Juden aufzuklären, die 1941 und 1942 nach Minsk deportiert worden waren. Mit großem Engagement haben diese Studierenden Archive besucht, im Internet recherchiert, Briefe in alle Welt geschickt, um noch Verwandte ausfindig zu machen, Fotos und alle erreichbaren Informationen zusammengetragen.

Das Ghetto in Minsk existierte von 1941 bis 1943

Neben einer Ausstellung, die im Frühjahr 2011 im Centrum Judaicum zu sehen war, ist nun ein Gedenkbuch entstanden, das die Studierenden eigenständig zusammengestellt und geschrieben haben. Historische Hintergrundartikel erhellen den Kontext der Verfolgung bis 1941 und die Geschichte des Ghettos in Minsk 1941 bis 1943. Im Dokumententeil sind Namenslisten der beiden Deportationen von Berlin nach Minsk am 14. November 1941 und 24./25. Juni 1942 abgedruckt. Den Hauptteil aber bilden 59 Biografien, in denen Menschen und ihre Schicksale erzählt werden.

Wie zum Beispiel Dorothea Lewy, die 1882 in Rogasen im damals preußischen Posen zur Welt kam, Schneiderin lernte und nach Berlin zog, um sich dort eine Existenz aufzubauen. In Berlin lernte sie den Bankangestellten Eduard Block kennen. Beide heirateten 1905. Sie lebten in der Cauerstraße in Charlottenburg, 1906 wurde die erste Tochter Charlotte, 1913 die zweite Tochter Eva geboren. Im Ersten Weltkrieg kam Eduard Block ums Leben und die Kriegerwitwe Dorothea Block musste sich und die beiden Töchter mit Schneiderarbeiten ernähren. Das ging recht und schlecht, bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen.

Dorothea Block durfte ab 1935 nicht mehr als selbstständige Schneiderin arbeiten. Ihre Töchter hatten keine Zukunft mehr in ihren erlernten Berufen und emigrierten: Charlotte nach Palästina; Eva, die 1938 noch geheiratet hatte, mit ihrem Mann nach Schanghai, das damals einen der wichtigsten Emigrationsorte für jüdische Flüchtlinge darstellte, da weder Einreisepapiere noch ein Visum vorausgesetzt waren. Die junge Familie hatte Glück, fand rasch eine Wohnung und Arbeit. Ein knappes Jahr nach der Ankunft in Schanghai kam Jeannette zur Welt, liebevoll Lu Mei Li genannt, was schöne Schwester bedeutet.

Dorothea Block blieb in Berlin zurück, zog in eine kleine Wohnung in der Marchstraße und war ab September 1941 wie alle Jüdinnen und Juden in Deutschland gezwungen, den gelben Stern zu tragen. „In der Judenfrage“, so hielt Joseph Goebbels, der auch NSDAP-Gauleiter in Berlin war, eine Unterredung mit Hitler am 19. August 1941 fest, „kann ich mich beim Führer vollkommen durchsetzen. Er ist damit einverstanden, dass wir für alle Juden im Reich ein großes sichtbares Judenabzeichen einführen, das von den Juden in der Öffentlichkeit getragen werden muss. Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann unter einem härteren Klima in die Mache genommen.“

Überall drängten die Gauleiter auf eine rasche Deportation der Juden

Überall in Deutschland drängten die NS-Gauleiter wie in Berlin auf eine rasche Deportation der Juden aus den Städten. In diesen Septembertagen fiel die Entscheidung Hitlers, mit der Deportation aller deutschen, österreichischen und tschechischen Juden zu beginnen, noch bevor der Krieg zu Ende sei. Am 18. September teilte SS-Chef Heinrich Himmler dem Gauleiter des besetzten Warthelandes, Arthur Greiser, mit, der „Führer“ wünsche, dass „möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit“ werde. Am 15., 16. und 18. Oktober verließen die ersten Deportationszüge Wien, Prag und Berlin in Richtung Litzmannstadt/Lódz, wenig später dann direkt nach Riga, Minsk und Kaunas.

Dorothea Block wurde ebenfalls am 14. November 1941 nach Minsk deportiert, wo sich ihr Schicksal verlor. Der Brief, den ihre Tochter aus Schanghai geschrieben hatte, kam ungeöffnet wieder zurück.

Dorothea Block mit ihren Töchtern. Die Mutter wurde deportiert, die Töchter konnten rechtzeitig emigrieren.
Dorothea Block mit ihren Töchtern. Die Mutter wurde deportiert, die Töchter konnten rechtzeitig emigrieren.
© Jeanette Lauritsen

Von Berthold Rudner, der in der Klopstockstraße im Berliner Hansaviertel eine Autoreparaturwerkstatt betrieb und für die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“ Artikel schrieb, sind Tagebuchnotizen über die brutalen und entmenschlichenden Verhältnisse im Ghetto Minsk erhalten. „Hier lernt man erst den wahren Menschen kennen. Alle Kultur und Zivilisation fällt ab wie die Blätter im Herbst; übrig bleibt der kahle Stamm. Und was nicht sturmfest ist fällt.“

"Kälte, Hunger und Peitsche"

Und einige Tage später: „Kälte, Hunger und Peitsche beeinträchtigen sehr die Stimmung, man sehnt sich nach seinem Heim, nach lieben Händen und treuen Seelen und sinnt, und sinnt, greift ins Leere und muss sich gewaltsam aufraffen, um wie ein Wolgaschiffer das sehr schwere Lebensschifflein gegen Sturm und Drang, um sich loszureissen, runterzuziehen.“ Am 3. Juni 1942 heißt es: „Einem 2ten Wiener Transport wurden wieder Lebensmittel und Koffer abgenommen. Wir erhielten jeder einen Laib Brot aus – Wien und haben vorübergehend auch besseres Essen. Auf Kosten der – Wiener.“ Danach bricht das Tagebuch ab. Das weitere Schicksal Berthold Rudners ist unbekannt.

Wer weiß, wie sehr sich die Nationalsozialisten bemüht haben, über den Mord hinaus ihre Opfer dem Vergessen anheimfallen zu lassen, kann ermessen, welche immense Arbeit diese studentische Gruppe hier geleistet hat. Nicht bloß in historischer Hinsicht, um die weit verstreuten Bruchstücke von Biografien zu rekonstruieren, sondern auch hinsichtlich unseres gesellschaftlichen Gedächtnisses, um uns dieser vergessenen Menschen wieder zu erinnern, die einst die Nachbarn von nebenan waren. Menschen, die wie wir lachten, Wünsche und Hoffnungen besaßen ebenso wie sie Enttäuschungen und Verluste erlebten, Feste feierten, arbeiteten, auf ihre Familie, ihre Kinder stolz waren. Ebendies ist in den Geschichten dieses bewegenden Gedenkbuches zu lesen.

- Der Autor ist Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat die Studierenden betreut, die den Band erarbeitet haben. Das Buch ist jetzt erhältlich: „Berlin – Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten. Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden“, herausgegeben von Anja Reuss und Kristin Schneider, Berlin: Metropol-Verlag, 2013, 496 Seiten, 24 Euro.

Michael Wildt

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