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Holocaust, Nationalsozialismus? "Das hatten wir schon in der Schule rauf und runter", zitiert ein Didaktikprofessor seine Studierenden. Im Bild die Hauptwache des Vernichtungslagers Auschwitz.
© imago/imagebroker

Umgang mit Nationalsozialismus: Hochschulen ignorieren den Holocaust

An deutschen Universitäten gibt es wenig Lehre zur Shoa und zum Nationalsozialismus. Für Experten ist das „ein Desaster“.

Holocaust und Nationalsozialismus gehören in Deutschland zu den historischen Themen, die die Gesellschaft auch 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs intensiv beschäftigen. Für Schülerinnen und Schüler sind der millionenfache Mord an den europäischen Juden und andere NS-Verbrechen Pflichtstoff. Doch an vielen Hochschulen werden Lehrveranstaltungen dazu nur selten oder gar nicht angeboten. „Ein Desaster“ nennt dies der Berliner Politikwissenschaftler Johannes Tuchel.

Es fehle massiv an Vorlesungen und Seminaren zur Realgeschichte, insbesondere in der Lehrerbildung, kritisiert Tuchel. Er leitet die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, ist Experte für das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager und lehrt am privaten Berliner Touro College im Masterstudiengang Holocaust Communication. Wie es um die Lehre über Holocaust und Nationalsozialismus bestellt ist, zeigt eine jetzt veröffentlichte Studie des Centers für Digitale Systeme (Cedis) der Freien Universität Berlin, die Tuchel wissenschaftlich beraten hat.

Vorlesungsverzeichnisse von 78 Hochschulen untersucht

An jeder der 78 untersuchten Hochschulen fanden in den vergangenen beiden Jahren durchschnittlich nur 1,5 Lehrveranstaltungen über den Holocaust und 1,7 Veranstaltungen über den Nationalsozialismus statt. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer Datenauswertung von zwei Mitarbeiterinnen der Digitalen Zeitzeugen-Archive des Cedis zum Nationalsozialismus. Lena Kahle und Verena Lucia Nägel haben Online-Vorlesungsverzeichnisse ausgewählter Unis für vier Semester nach Schlagworten wie Holocaust, Shoa, Nationalsozialismus, Erinnerungskultur, Gedenkstätte oder Zeitzeugen durchforstet. Untersucht wurden 69 Unis und neun Fachhochschulen, „bei denen anhand des Studienangebots davon ausgegangen werden kann, dass der Holocaust Teil des Lehrangebots ist“, wie die Autorinnen erklären. Vorgestellt haben sie erste Ergebnisse jetzt in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors. Unterstützt wird die Studie durch die Jewish Claims Conference.

Die meisten Veranstaltungen bieten die FU Berlin und die LMU München an

Herausgefallen sind Medizinische und Musik-Hochschulen sowie technisch ausgerichtete oder Verwaltungs-Fachhochschulen – obwohl auch deren Studierende sich zweifellos mit der NS-Verstrickungen ihrer Berufsstände auseinandersetzten sollten. Dort würden aber historische Fächer, die dieses Wissen vermitteln könnten, schlicht nicht unterrichtet, erklärte Lucia Nägel auf Nachfrage.

Identifiziert haben die Wissenschaftlerinnen insgesamt 464 Veranstaltungen über den Holocaust und 521 über den Nationalsozialismus. Sie verteilen sich sehr unregelmäßig über die untersuchten Hochschulen. Die meisten einschlägigen Seminare und Vorlesungen, jeweils 23, boten die LMU München und die FU Berlin an. Mit dem Touro College (22 Veranstaltungen) und der Humboldt-Universität (21) sind zwei weitere Berliner Hochschulen vergleichsweise aktiv. An der TU Berlin waren es in den vier Semestern immerhin zehn Veranstaltungen – der Spitzenwert unter den Technischen Universitäten in Deutschland. Zu den Universitäten, an denen der Studie zufolge "besonders viele Veranstaltungen über den Holocaust stattfanden", zählen auch die in Frankfurt am Main, in Hamburg und in Bochum.

Forschungsschwerpunkte an der Humboldt-Uni und an der TU Berlin

Besonders an Hochschulen, an denen die Themen „institutionell verankert“ sind, ist das Lehrangebot groß, haben Nägel und Kahle festgestellt. Die LMU München ist eng mit dem Institut für Zeitgeschichte und seinem Zentrum für Holocauststudien verbunden. An der HU ist die bundesweit einzige Professur im Fach Geschichte mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus angesiedelt. Dort lehrt seit 2009 Michael Wildt, der gemeinsam mit seinen Studierenden etwa Biografien einstiger Berliner Jüdinnen und Juden erforscht hat, die 1941 in das Ghetto von Minsk verschleppt wurden.

An der TU Berlin gibt es das von Stefanie Schüler-Springorum geleitete Zentrum für Antisemitismusforschung. Und der Masterstudiengang zur Holocaust Communication am Touro College ist bundesweit einzigartig. An der FU gibt es keinen ausgewiesenen Schwerpunkt, aber eine Vielzahl von Lehrveranstaltungen zu Holocaust und NS in verschiedenen Fächern. An der Universität Hamburg ist das Graduiertenkolleg „Vergegenwärtigungen: Repräsentationen der Shoah in komparatistischer Perspektive“ angesiedelt.

An elf Hochschulen wurde gar nicht zu dem Thema gelehrt

Nur an 23 der 78 untersuchten Hochschulen gabe es in jedem der fraglichen vier Semester mindestens ein Lehrangebot zum Holocaust. An elf der Hochschulen wurde gar nicht zu dem Thema gelehrt, an acht kam der Holocaust nur in einem der Semester vor. Um welche Hochschulen es sich dabei konkret handelt, wollen die Autorinnen nicht öffentlich machen. Mit der Studie sollten nicht einzelne Einrichtungen angeprangert werden, sagt Verena Lucia Nägel. Vielmehr gehe es darum, herauszufinden, nach welchen Kriterien Lehrveranstaltungen zustande kommen – oder auch nicht – und wie man erreichen könne, dass dies künftig möglichst flächendeckend geschieht.

Politikwissenschaftler Tuchel kritisiert auch die große Zahl der Veranstaltungen, die ästhetische oder andere Ableitungen des Holocaust, also etwa seine filmische Verarbeitung, behandeln. Tatsächlich fanden nur 192 der 464 Lehrveranstaltungen im Fach Geschichte statt, 80 in der Literaturwissenschaft (einschließlich Germanistik), 45 in der Kulturwissenschaft und ebenso viele in Pädagogik und Erziehungswissenschaften. Tuchel vermutet eine „thematische Abwehr“. Nägel und Kahle fragen angesichts des Mangels an Realgeschichte, die nur an fünf Hochschulen regelmäßig unterrichtet wurde: „Wie kann erreicht werden, dass vor allem angehende Geschichtslehrkräfte ausreichend auf das Thema vorbereitet sind?“

Viele Lehramtsstudierende weichen dem Themenkreis aus

Ganz um Nationalsozialismus und Holocaust kämen Lehramtsstudierende nicht herum, sagt Martin Lücke, Professor für Geschichtsdidaktik an der FU. Schließlich gibt es im Bachelor ein obligatorisches Didaktik-Basismodul mit Übungen zur Holocaust Education und zum NS. Lücke beobachtet aber, dass viele Lehramtsstudierende dem Themenkreis ansonsten ausweichen – etwa zugunsten der derzeit beliebten Globalgeschichte. „Sie sagen: Das wissen wir schon, das hatten wir in der Schule rauf und runter.“

Die Kenntnisse zum Holocaust, auf die er als Didaktiker aufbauen müsste, seien aber keineswegs gefestigt. So wüssten viele Studierende nicht, dass Juden nicht nur in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet wurden, sondern auch bei Erschießungen durch Wehrmacht, SS und Sondereinsatzgruppen. Mittlerweile hat Lücke das Standard-Einführungswerk „Der Holocaust“ von Wolfgang Benz (Beck’sche Reihe, 8. Auflage 2014), dem ehemaligen Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung, in seinen Seminaren zur Pflichtlektüre gemacht.

In anderen Ländern sind Holocaust Studies längst an Universitäten etabliert

Im Schuldienst kommt dann kein Geschichtslehrer mehr um die Verbrechen des Nationalsozialismus herum. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 ist fest in den Lehrplänen verankert. Lücke, der sich generell gegen Pflichtstoff im Geschichtsstudium ausspricht, plädiert hier für eine Ausnahme: „Die Geschichte des Holocaust und des Nationalsozialismus müsste kanonisch als fachhistorisches Grundwissen aufgenommen werden.“ Lücke gehört zu den Experten, die für die FU-Studie befragt wurden und deren Empfehlungen demnächst in einem zweiten Teil veröffentlicht werden sollen.

Deutschlands erste Professur, die explizit der Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust gewidmet ist, nimmt im Herbst an der Universität Frankfurt am Main und am Fritz-Bauer-Institut ihre Arbeit auf. Angesichts der Tatsache, dass die Holocaust Studies in Israel, den USA und Großbritannien seit Langem an Universitäten etabliert sind, müssten in Deutschland weitere Schritte folgen, fordern Johannes Tuchel und Andreas Nachama, Direktor der Topographie des Terrors: Es sollten Professuren mit einer klaren Denomination für Holocaust-Geschichte geschaffen werden, die nicht – wie seit den 80er Jahren häufig geschehen – bei einer Neubesetzung wieder umgewidmet werden könnten.

HU-Forscher Wildt fordert Professuren zu Holocaust und Genocide Studies

Dieser Forderung schließt sich Michael Wildt von der Humboldt-Universität an. „Wenn wir europäische Geschichts- und Gedenkpolitik ernst nehmen, die Osteuropa integriert, muss es Professuren zu Holocaust und Genocide Studies geben.“ Der Holocaust sei ein zentrales Element für die europäische Identität – gerade in der Abgrenzung im Sinne eines „Nie wieder!“.

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