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Eine Collage aus verschiedenen Buchtiteln zu Sebastian Haffners "Die deutsche Revolution 1918/1919.
© Uwe Soukup

Deutsche Revolution 1918/1919: Späte Genugtuung für Haffners Werk

Sebastian Haffners umstrittene These vom sozialdemokratischen Verrat an der Revolution von 1918/19 wird neu diskutiert.

Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Deutschland hat sich mit dem gerade vergangenen 100. Jahrestag verändert. Vielleicht ist diese Revolution sogar das erste Mal seit langer Zeit überhaupt richtig wahrgenommen worden. Vor 25 Jahren etwa interessierte sich praktisch kein Mensch für dieses Datum. Während des Kalten Krieges war das Geschehen Teil der Ost-West-Auseinandersetzung: Spartakus gut, Friedrich Ebert und Gustav Noske böse (und umgekehrt).

Der 100. Jahrestag änderte alles. Schon im Herbst 2017 erschienen die ersten Bücher zum bevorstehenden Revolutionsjahr, allen voran „Am Anfang war Gewalt“ des irischen Historikers Mark Jones und „Aufstand für die Freiheit“ des Redakteurs der „Süddeutschen Zeitung“, Joachim Kaeppner, der sich im Vorwort explizit auf Sebastian Haffners „Der Verrat“ (erschienen 1993) bezieht. Dieses Buch sei ein cri de cœur, ein Aufschrei der Verzweiflung, eine, so Kaeppner, „Totenklage auf alles, was in Deutschland hätte sein können und niemals sein durfte: Hätte die Ebert-SPD die Massenbewegung genutzt, statt sie zu fürchten, das alte Militär zum Teufel gejagt, statt sich mit ihm zu verbünden, wäre die Republik 1933 wahrscheinlich nicht untergegangen oder wenigstens nicht den Nazis in die Hände gefallen – so der Gedankengang Haffners, und seiner Logik kann man sich schwer verschließen.“

Haffner: Sie sind schuld an der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg

All das versuchen wir jetzt, nach hundert Jahren, zu verstehen. Haffner, der es miterlebt hatte und am Ende der Entwicklung, wie so viele, emigrierte, aber nach Deutschland zurückkehrte und Erfolg hatte, wie so wenige, erklärte es uns – als einsamer Rufer. Und entsprechend angegriffen sowohl von Günter Grass als auch von vielen Historikern. Haffner war über Jahre der einzige „nicht kommunistische Autor“, der die These vom Verrat der Revolution durch die SPD-Führung vertrat.

Erschienen ist Haffners Buch bereits 1968 zum 50. Jahrestag der Novemberrevolution als Serie im Magazin „Stern“ und ein Jahr später als Buch unter dem Titel „Die verratene Revolution“. Die jüngeren Neuauflagen hießen dann „Die deutsche Revolution 1918/1919“, was zu Spekulationen Anlass gab, Haffner nähme seine These vom Verrat, von einer „sozialdemokratischen Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde“, zurück.

Dies ist nicht der Fall. Haffner hatte auf die späteren Titelgebungen keinerlei Einfluss. Und auch inhaltlich ließ Haffner an Friedrich Ebert und Gustav Noske bis zuletzt kein gutes Haar. Noch im September 1997, in seinem letzten Pressegespräch, sagte er gegenüber Marlies Menge in der „Zeit“ über Ebert und Noske: „Die haben die Revolution verraten, sie sind schuld an der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, ohne sie wäre Hitler nicht an die Macht gekommen.“

Der 100. Jahrestag zwang viele, Position zu beziehen

Auch mit der Neuausgabe seines Buches 1993 unter dem Titel „Der Verrat“ war er sehr zufrieden und sprach mit seinen Kindern darüber, was ihm die Wiederbelebung seines so lange verkannten Buches bedeutete. Im Gedenkjahr 2018 nun ist Haffners umstrittenstes Buch aus der Schmuddelecke herausgekommen, in die es Historiker über Jahre mühevoll gedrängt hatten. Seine Thesen werden wieder diskutiert.

So kamen auch die furchtbaren Fehler der SPD vor 100 Jahren wieder – oder erstmals – ins Gespräch. Die Teilhabe der SPD an unfassbaren historischen Verbrechen wie den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht konnte nun nicht mehr übergangen werden. Über die Umstände dieser Morde forscht seit über 25 Jahren der Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger. Er stieß auf Hinweise, dass der Wehrbeauftragte Gustav Noske (SPD) in die Morde verwickelt sein könnte – das kam in den frühen 90er Jahren noch einer besonders üblen Verschwörungstheorie recht nahe. Doch die Nachwirkung der Bücher von Sebastian Haffner und Klaus Gietinger („Eine Leiche im Landwehrkanal“; Edition Nautilus), die ein Tabu lüfteten, machten dann das Undenkbare denkbar.

Der 100. Jahrestag zwang, Position zu beziehen. Arno Widmann, immerhin ein ex-SDSler und Mitbegründer der „taz“, schrieb in der „Berliner Zeitung“, es sei „vernünftig“ gewesen, dass die „junge Republik – auch unter Zuhilfenahme der alten Apparate – gegen alles, was links von ihr stand, vorging“. Der Historiker Gerd Krumeich äußerte im Deutschlandfunk sein Verständnis, dass „eine neue Regierung sich mit den Militärs verbünden muss, um eine wie auch immer konfuse Revolution zu verhindern. Ich glaube, ich hätte das auch so gemacht“. Und aus der „Vorwärts“-Redaktion konnte man per Facebook und Twitter lesen, dass es der „Spartakusaufstand selbst“ gewesen sei, der zum Tod Luxemburgs und Liebknechts geführt habe. Die SPD habe nur „mithilfe des Militärs“ die Demokratie verteidigt.

Das offizielle Gedenken, etwa zum 100. Jahrestag der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 in Weimar, drei Wochen nach der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, ging über die aktuell diskutierten Probleme der Niederschlagung der Revolution durch die militärischen Eliten des Kaiserreichs hinweg. Dass die junge Republik sich ihre Totengräber – immerhin putschten sie schon 1920 gegen diese Republik – von Beginn an ins Boot holte, war nicht Thema.

Andrea Nahles sprach über Noskes Rolle bei den Morden

Überraschenderweise gestand die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles am 9. November des vergangenen Jahres ein, es gelte als wahrscheinlich, dass Gustav Noske (SPD) bei den Morden an Luxemburg und Liebknecht seine Hände im Spiel gehabt habe. Sie gab auch zu, dass es ein Fehler war, mit den kaiserlichen Militärs ein Bündnis einzugehen, und dies zur späteren „großen Katastrophe“ beigetragen habe. Das ließ aufhorchen, doch dem folgte – nichts. Jegliche Ehrung der Ermordeten blieb aus.

Es ist eine verfahrene Situation. Immer wieder ist davon die Rede, dass es darum gegangen sei, weiteres Blutvergießen zu verhindern. Aber die blutige Unterdrückung der Revolution setzte erst danach ein. Höhepunkte waren die brutalen Angriffe gegen „Aufständische“ im März 1919 – Erschießungen, Granatwerfer- und sogar Fliegerangriffe auf Wohngebiete im Osten Berlins – mit mindestens 1000 Opfern. Hinzu kommen etliche brutale lokale Einsätze, in München oder Bremen, insbesondere aber 1920 im Ruhrgebiet nach dem Putsch der Militärs gegen die Republik.

Der Widerstand gegen den Putsch wurde von eben jenen Militärs niedergeschlagen, die den Putsch inszeniert hatten. Haffner schrieb darüber: „So endete der Kapp-Putsch: mit einem mörderischen Strafgericht der immer noch sozialdemokratisch geführten Regierung über ihre Retter, ausgeführt von denen, vor denen sie gerettet worden war.“

Haffner missfiel auch die Namensgebung der "Friedrich-Ebert-Stiftung"

Die SPD als Ganzes wurde immer für ihren Rechtsschwenk anerkannt, sei es bei der Zustimmung zur Kriegspolitik, sei es bei der blutigen Unterdrückung der eigenen Revolution. Sie hat bis heute nicht verstanden, dass sie sich erst dann aus der so entstandenen Abhängigkeit vom deutschen Konservatismus lösen kann, wenn sie die Verantwortung für die furchtbar falsche Entwicklung anerkennt und sich endlich davon abnabelt. Dazu würde auch gehören, sich nicht nur von Noske zu distanzieren, sondern sich ebenso von ihrem „Ehrenvorsitzenden“ Friedrich Ebert zu trennen.

Sebastian Haffner sagte im Januar 1994: „Ich habe es immer als sehr unangenehm empfunden, dass die Parteistiftung der SPD ,Friedrich-Ebert-Stiftung‘ heißt.“ Es gebe ja andere, „weniger umstrittene und weniger bestreitbare Namen in der Geschichte der SPD“ – etwa August Bebel. Haffners verstörendes Buch über diese unendlich wichtige, folgenreiche, erstickte und unterdrückte Revolution hat eine einzigartige Stellung in der Geschichtsschreibung. Sie wird uns auch nach den Jahrestagen noch beschäftigen.

Uwe Soukup

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