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Studieren ohne Abitur: Sie haben Mut zur Uni

Aus dem Handyladen in den Hörsaal, vom Barkeeper zum Kommunikationswissenschaftler: Beruflich qualifizierte Berliner Studierende ohne Abitur berichten wie es ihnen an der Uni ergeht, welche Startschwierigkeiten sie hatten - und worauf sie stolz sind.

Studieren ohne Abitur: Diese Möglichkeit nutzen in Berlin immer mehr beruflich Qualifizierte. Fast 2400 Studienanfänger ohne Abitur haben sich an Berliner Hochschulen eingeschrieben, seitdem im Jahr 2011 der Zugang für diese Gruppe wesentlich erleichtert wurde, wobei die Zahlen von Semester zu Semester steigen. Inzwischen kann eine Schreinermeisterin auch Philosophie oder Geschichte studieren, ein staatlich anerkannter Krankenpfleger Physik. Denn Bewerbern mit Aufstiegsweiterbildung wie dem Meister stehen alle grundständigen Studiengänge offen. Andere beruflich Qualifizierte brauchen nur noch drei Jahre Berufserfahrung, um Fächer zu studieren, die zu ihrer Ausbildung passen, für weitere Fächer reicht eine Zugangsprüfung. Wie finden sich diese Studierenden an der Uni zurecht? Wir haben fünf von ihnen gefragt.

Lars Biermann, 31: vom Handy-Filialleiter zum Grundschullehrer

Ich bin Kaufmann im Einzelhandel und habe als Filialleiter bei Vodafone gearbeitet. Ich konnte aber immer schon gut mit Menschen, besonders mit Kindern umgehen und spielte mit dem Gedanken etwas Pädagogisches zu machen. Nach einem Praktikum an einer Grundschule in Friedrichshain wusste ich sofort: Das ist es! Von einer Freundin bekam ich dann im vergangenen Jahr den Tipp, dass ich durch meine berufliche Qualifikation auch ohne Abi studieren kann. An die Uni zu kommen war dann aber trotzdem schwer. Ich hatte den Eindruck, die Hochschulen wussten noch nicht so recht, wie sie mit Fällen wie meinem umgehen sollten.

Studierende in einer Unterführung auf dem Weg zum Eingang ihrer Universität.
Großer Schritt. Viele beruflich Qualifizierte ohne Abitur haben Statschwierigkeiten an der Uni, sehen sich aber besonders motiviert.
© Imago

Ich lief von Studienberatung zu Studienberatung, erhielt widersprüchliche Infos. Sehr kurzfristig erfuhr ich, dass ich zwei Zugangsprüfungen in Mathe und Deutsch ablegen musste. Also büffelte ich Integrale und Kurvendiskussion – Dinge, von denen Realschulabgänger in der Regel noch nichts gehört haben. Ich habe es trotzdem geschafft und kann jetzt meinen Traum verwirklichen. Meine Hausarbeiten klangen am Anfang zunächst so, als wollte ich den Lesern Produkte verkaufen. Das war wohl die Prägung durch den Einzelhandel. Jetzt klappt das besser. Hoffentlich stellen sich die Unis schnell besser auf beruflich Qualifizierte ein, denn sie bringen viele Vorteile mit – zum Beispiel Lebenserfahrung und viel Motivation, das Studium durchzuziehen.

"Ich werde nicht mehr wie früher zur 'Frau Doktor' aufblicken"

Monja Schünemann, 43: als Krankenschwester ins Geschichts-Seminar

Dass Studieren nur etwas für wahnsinnig kluge Leute ist, und dass ich zu diesen Leuten nicht gehöre – das dachte ich, als ich nach der Realschule meine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Doch in all den Jahren, die ich auf einer Rettungsstelle arbeitete, las ich Haufen wissenschaftlicher Bücher und wurde immer interessierter an geschichtlichen Themen. Immer wenn mein Job wieder einmal sehr anstrengend war, sagte ich zu meinem Mann, irgendwann würde ich mein Abitur nachmachen und Geschichte studieren. Eines Tages antwortete er mir, ich solle doch die Uni mal fragen, ob das nicht auch ohne Abitur ginge. Ich rief die FU an und konnte kaum glauben, was mir gesagt wurde: Weil ich eine Weiterbildung zur Fachkrankenschwester gemacht hatte, könne ich jeden Studiengang ohne Zugangsprüfung studieren.

Lars Biermann.
Lars Biermann.
© privat

Kurze Zeit später saß ich als eingeschriebene Studentin im Seminar und diskutierte über mittelalterliche Texte. Doch der Anfang war nicht leicht. Hausarbeiten zu schreiben, und das auch noch mit Word, musste ich erst lernen. Doch mit viel Motivation geht alles. Und das, was ich jetzt mache, unterscheidet sich auch gar nicht so sehr von meiner früheren Tätigkeit: Früher musste ich Krankheitssignale von Patienten interpretieren, heute eben geschichtliche Quellen. Ich will nach dem Bachelor noch einen Master dranhängen, danach promovieren. Dann werde ich nicht mehr wie früher als Krankenschwester zur „Frau Doktor“ aufblicken, sondern werde selbst eine sein.

"Mittlerweile schaffe ich auch Mathe gut"

Nicolas Brendel, 24: als Bankkaufmann ins BWL-Studium

In einer meiner ersten Mathe-Vorlesungen erklärte der Dozent: „Von 17 Kapiteln im Lehrbuch hattet ihr zehn bereits im Abi.“ Ich kannte keine einzige Gleichung aus dem Buch und musste alles selbst aufholen, denn ich habe nur einen Realschulabschluss. An die Uni darf ich wegen meiner Ausbildung als Bankkaufmann und wegen meiner Berufserfahrung in einer Sparkasse in Mainfranken. Dort habe ich zwar gern gearbeitet, nach einigen Jahren wollte ich aber noch mehr lernen und auch für mich selbst etwas leisten. Deswegen besuchte ich neben der Arbeit ein Jahr lang einen Vorbereitungskurs für die Berufsoberschule, an der ich danach die allgemeine Hochschulreife erwerben wollte. Doch dann fand ich heraus, dass ich mit meinen Qualifikationen gar keine Berufsoberschule brauche, um zu studieren.

Monja Schünemann.
Monja Schünemann.
© Luisa Hommerich

Weil ich auf meine Erfahrungen aufbauen wollte, entschied ich mich für Betriebswirtschaftslehre an der FU. Der NC dort ist hoch, doch die Uni hält in fast allen Fächern acht Prozent der Plätze für beruflich Qualifizierte frei. Innerhalb dieser Quote zählte dann meine Ausbildungsnote. Ich wurde zugelassen, schon saß ich im Hörsaal. Das Studium eröffnet mir nun jeden Tag neue Horizonte. Mittlerweile schaffe ich auch Mathe gut. Ich merke, dass ich ein wenig organisierter studiere als meine Kommilitonen – das liegt wohl an meinen sieben Jahren Berufserfahrung.

"Die ersten zwei Semester waren ein Schock"

Markus Kauer, 29: als Chemielaborant zur Promotion

Ich komme aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt, eine Ausbildung sah ich als normalen Weg an. Nach der 10. Klasse ging ich vom Gymnasium ab und wurde Chemielaborant, arbeitete in der Lebensmittelanalytik. Ich wusste aber, dass ich das nicht bis zur Rente machen wollte. Als ich 2008 von einem Bekannten erfuhr, dass ich auch ohne Abitur studieren kann, habe ich mich für den Chemie-Bachelor an der TU beworben, ohne wirklich daran zu glauben, dass es klappt. Damals konnten beruflich Qualifizierte nur fachnahe Studiengänge studieren. Zwei Wochen vor Semesterstart kam die Zusage.

Nicolas Brendel.
Nicolas Brendel.
© Luisa Hommerich

Die ersten zwei Semester waren ein Schock: Mit dem Mathe-Wissen der Klasse 10 ist man im Chemiestudium aufgeschmissen. Ich hatte außerdem sieben Jahre lang nicht mehr schulisch gelernt. Doch teilweise wurden mir Leistungen aus meiner Ausbildung fürs Studium angerechnet. Im Gegensatz zu „normalen“ Studierenden hatte ich aber die Auflage, in den ersten zwei Semestern bestimmte Module schaffen zu müssen, sonst hätte ich zur Zwangsberatung gemusst. Ich habe aber alles geschafft.

Das Lernen hat mir so gefallen, dass ich danach gleich noch einen Master gemacht habe. Jetzt promoviere ich an der Uni Göttingen, danach möchte ich in der Forschung und Entwicklung arbeiten. Ich bin froh, dass ich diesen Weg gehen konnte.

"Statt eines Dienstwagens hat man auf einmal ein Fahrrad"

Peter Mewes, 28: als Barkeeper in die Publizistik

Nach meiner Ausbildung als Hotelfachmann habe ich als Barkeeper gearbeitet. Irgendwann hatte ich aber keine Lust mehr auf klebrige Limettenfinger und habe mich an die Rezeption versetzen lassen. Dort war es meine Aufgabe, neue Kunden zu gewinnen, ich entwickelte ein großes Interesse für die Bereiche Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Als ich erfuhr, dass ich auch ohne Abi studieren kann, bewarb ich mich sofort für Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Um zugelassen zu werden, musste ich noch einen Politik- und einen Geschichtstest bestehen. Die Fragen waren sehr anspruchsvoll, nur etwa 40 Prozent der Bewerber haben bestanden. Ich hatte aber mit einem Freund, der Geschichte studiert, tagelang dafür gelernt und wurde angenommen.

Markus Kauer.
Markus Kauer.
© Luisa Hommerich

Die ersten Tage an der Uni waren eigenartig: Statt eines Dienstwagens hat man auf einmal ein Fahrrad, statt zu arbeiten sitzt man in einer Vorlesung und lässt sich berieseln. Dafür ist ein hohes Maß an Selbstorganisation gefragt. Das fiel mir am Anfang schwer. Zudem ist geistiges Arbeiten genauso anstrengend wie nicht-geistiges. Doch am Ende eines Lern-Tages ist man erfüllter. Ich finde es interessant, wie fremd sich Akademiker und Arbeiter oft sind, und wie sie sich gegenseitig herablassend oder skeptisch beäugen. Als beruflich qualifizierter Student weiß ich, dass beide Arten zu arbeiten einen hohen Wert haben. Und dass sie gar nicht so unterschiedlich sind, wie man gemeinhin denkt.

"Ich wollte weg aus dem Kommunen-Dorf und studieren"

Liza Pflaum, 24: aus der Kommune ins Politik-Studium

Auf einer normalen Schule war ich nur bis ich 10 Jahre alt wurde, dann sind meine Eltern mit mir nach Portugal in eine Kommune gezogen. Dort wurden wir Kinder zu hause unterrichtet. Wir haben zwar viel gelernt, ich habe jetzt aber kein Abitur. Als ich 17 war, wurde das zum ersten Mal zum Problem: Ich wollte weg aus dem Kommunen-Dorf und studieren. Wie sollte das gehen?

Peter Mewes.
Peter Mewes.
© Luisa Hommerich

Dann fand ich heraus, das man viele Musik-Fächer auch ohne Abi studieren kann. Ich bewarb mich 2012 fürs Diplom in Jazzposaune an der Uni Köln und wurde angenommen – Posaune spiele ich, seitdem ich zehn bin. Die Uni-Welt war trotz meiner Kommunen-Vergangenheit kein Schock für mich. Nachdem ich mein Diplom hatte, wollte ich sogar noch mehr lernen, und zwar ein Fach mit  gesellschaftspolitischem Fokus. Als ich gehört habe, dass man alles studieren kann, wenn man erst einmal einen akademischen Abschluss hat, habe ich mich riesig gefreut. Weil ich eine gute Abschlussnote hatte, konnte ich sogar nach Berlin gehen, um Politik am Otto-Suhr-Institut der FU zu studieren. Trotz meines fehlenden Abis habe ich im Studium kaum Unterschiede zwischen mir und meinen Kommilitonen bemerkt. Nur eins fällt mir auf: dass ich etwas weniger Angst vor Klausuren und Hausarbeiten habe als viele von ihnen. Vielleicht liegt das daran, dass ich ohne Leistungsdruck erzogen worden bin. Gute Noten schreibe ich trotzdem, weil mich das Fach interessiert.

"Mir hat das Abi im Studium nie gefehlt"

Maximilian S., 27: als Fahrradkurier an die UdK

Die Lust auf Schule hat mich in der zwölften Klasse verlassen. Damals ging ich auf eine Waldorfschule in Baden Württemberg und sah keinen Sinn darin, Abitur zu machen – denn ich dachte, ich will jetzt sowieso nicht studieren. Ein praktisches Jahr hätte mir die staatliche Anerkennung der Fachhochschulreife eingebracht, aber auch darauf hatte ich keine Lust. Stattdessen ging ich nach Berlin und arbeitete – als Fahrradkurier, Burger-Brater und Möbel-Restaurator. Ich habe jetzt im Prinzip gar keinen Schulabschluss. Trotzdem konnte ich mich 2010 am SAE-Institut in Berlin Wittenau für den Studiengang Audio-Engineering einschreiben, dort braucht man kein Abi, nur genügend Geld um zu studieren.

Die Gebühren waren mir dort aber nach knapp zwei Jahren zu hoch, der Abschluss kam mir käuflich vor. Ich hatte schon länger davon geträumt, etwas künstlerisches zu machen und wusste, dass man für die meisten Kunst-Studiengänge nur künstlerische Begabung und kein Abitur braucht. Also schickte ich der UdK eine Bewerbungsmappe mit lauter bunten Acryl-Bildern. Ich wurde angenommen. Jetzt studiere ich bildende Kunst und habe damit etwas gefunden, was mir Spaß macht und womit ich mich wohl fühle. Die meisten meiner Kommilitonen haben im Gegensatz zu mir Abitur, doch hat mir das im Studium nie gefehlt. Im Gegenteil: ich bin froh um die vielfältigen Lebenserfahrungen, die ich vorher sammeln konnte.

Luisa Hommerich

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