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Niels Schirrmeister steht vor einer Tafel im Hörsaal der Technischen Universität.
© Kai-Uwe Heinrich

Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte: Ohne Abi an die Uni

Die Hochschulen sollen sich für beruflich Qualifizierte öffnen. Doch bis auf wenige Ausnahmen ist ihr Anteil an den Studierenden weiterhin gering.

Niels Schirrmeister hat sie schon im Lebenslauf, die großen Namen. Er hat im Adlon gearbeitet, im Bundestag und auf dem Kreuzfahrtschiff „Europa“. Zielstrebig hat er sich hochgearbeitet. Nach seiner Ausbildung zum Hotel- und Gaststättengewerbeassistent in Österreich hängte er zwei Jahre Hotelfachschule dran und machte den Ausbilderschein. Bis zum Restaurantleiter stieg der gebürtige Weimarer auf. „Viel weiter kann ich in der Gastronomie nicht mehr kommen“, sagt der 30-Jährige. Deshalb entschied er sich vor vier Jahren für einen Neuanfang: Er bewarb sich an der TU Berlin um einen Studienplatz für Berufliches Lehramt – mit Erfolg. Inzwischen studiert er im Master Ernährung und Lebensmittelwissenschaft, mit Soziologie im Zweitfach. Läuft alles nach Plan, startet Schirrmeister nächstes Jahr ins Referendariat.

Niels Schirrmeister ist einer von wenigen Hundert Studenten an den öffentlichen Hochschulen der Hauptstadt, die nach Paragraf 11 des Hochschulgesetzes studieren. Das heißt: Sie haben kein Abitur oder Fachabitur am Gymnasium oder der Fachoberschule gemacht, sondern sind durch ihre berufliche Qualifikation studienberechtigt. Schirrmeister hat durch seine Ausbildung die fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung.

Inzwischen haben die Hochschulen ihre Türen weiter geöffnet. Bewerber, die eine Ausbildung plus Aufstiegsqualifizierung und Berufserfahrung haben, können sich um jedes Fach bewerben – nicht nur an Fachhochschulen, sondern auch an Unis. Darauf einigte sich 2009 die Kultusministerkonferenz (KMK). Fast alle Länder haben ihre Hochschulgesetze entsprechend reformiert, Berlin im Jahr 2011. Davon profitieren etwa Handwerker mit Meistertitel und Absolventen von Fachschulen: Ihre Abschlüsse sind formal dem Abitur gleichgestellt. Auch Bewerber mit fachgebundener Hochschulzugangsberechtigung können nun prinzipiell jedes Fach studieren; sie müssen aber zuvor meist eine Zugangsprüfung bestehen.

„Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren aber nur wenig an den Hochschulen geändert, wie die empirische Forschung zeigt“, sagt Klaus Scholle, Herausgeber der Zeitschrift für Beratung und Studium. Nach wie vor bilden die „nicht-traditionell Studierenden“, wie Bildungsforscher diese Gruppe nennen, nur einen winzigen Teil der Studenten. 2010 lag ihr Anteil an allen Studienanfängern bundesweit bei 2,7 Prozent, 2011 – nachdem viele Länder den KMK-Beschluss umgesetzt hatten – stieg er gerade einmal um einen Punkt auf 2,8 Prozent; das entspricht 14 600 Studienanfängern.

In Berlin ist der Anteil etwas höher, besonders an den FHs

In Berlin ist dieser Anteil höher: Er lag schon 2010 bei 3,6 Prozent, ebenso im Jahr darauf. Allerdings entfallen nur die wenigsten Studienanfänger mit beruflicher Qualifikation auf die großen Universitäten. Den aktuellen Leistungsberichten der Hochschulen zufolge begannen im vergangenen Jahr 181 Studierende ohne Abitur ihr Studium an der FU, HU oder TU – bei insgesamt 16 923 Neueinschreibungen; das sind 1,1 Prozent. Wesentlich mehr beruflich Qualifizierte entscheiden sich für eine Fach- oder private Hochschule.

Oder sie schreiben sich an der Fernuniversität Hagen ein. Dort sind die Zugangsregeln ohne Abitur traditionell großzügig, die Studiengebühren gering. Fast 40 Prozent der Studienanfänger 2011 hatten kein Abi. Das Berliner Regionalzentrum betreut mehr als 7000 Studenten. An den Hochschulen heißt es, die Fernuni nehme den Berliner Universitäten einen großen Teil der Bewerber ohne Abitur ab.

Wer spät studiert, hat oft schon Familie, kann nicht von Bafög leben

Ein Fernstudium ist für viele die erste Wahl, weil es sich leichter mit den Lebensumständen vereinbaren lässt. Wer spät ein Studium beginnt, hat oft schon Familie und kann sich ein klassisches Präsenzstudium finanziell kaum leisten. Zwar können auch Studenten nach Paragraf 11 Bafög beantragen, doch auch sie bekommen nur maximal 783 Euro für Studierende mit Kind. Als Haupteinkommen für eine Familie ist das zu wenig. Viele Stipendien setzen bei 30 eine Altersgrenze.

„Studenten ohne Abitur sind an einer anderen Station in ihrem Leben als diejenigen, die direkt von der Schule kommen“, sagt Susanne Viernickel, Prorektorin der Alice-Salomon-Hochschule (ASH). Darauf müssten die Hochschulen Rücksicht nehmen. Die auf Gesundheit und Soziales spezialisierte ASH hat Bewerber mit beruflicher Qualifikation zu ihrer wichtigsten Zielgruppe gemacht. Über alle Semester verteilt studierten im Sommersemester dieses Jahres 191 Personen ohne Abitur an der ASH, ein Anteil von 6,8 Prozent. An der ASH studieren etwa Krankenschwestern und Hebammen Gesundheits- und Pflegemanagement, Kinderpflegerinnen machen den Bachelor in „Erziehung und Bildung im Kindesalter“.

70 Prozent der Studierenden an der Salomon-Hochschule sind berufstätig

Die ASH kommt ihnen entgegen – mit Online- und Fernstudienangeboten, durch die Anrechnung von Qualifikationen und speziell organisierte Studiengänge. So kann Gesundheits- und Pflegemanagement entweder vormittags oder am Abend studiert und mit Diensten im Krankenhaus vereinbart werden. 70 Prozent der Studierenden an der ASH sind berufstätig.

20 Prozent ihrer Studienplätze reserviert die Fachhochschule für Bewerber ohne Abitur und steht damit an der Spitze der öffentlichen Hochschulen in Berlin. Denn sie können selbst entscheiden, welche Quote sie für Bewerber ohne Abitur festlegen wollen. So halten FU und HU jeweils acht Prozent der Studienplätze für diese Gruppe bereit. An der TU sind es pro Studiengang fünf, im Beruflichen Lehramt zehn Prozent. Bei kleinen Studiengängen geht es oft nur um zwei, drei Plätze.

Zu wenig Bewerber mit Beruf: Kontingente werden nicht vergeben

Allerdings wird das Kontingent in den meisten Fächern nicht komplett vergeben. „Wir haben nur im Berufsschullehramt für Ernährung und Lebensmittel mehr Bewerber als Plätze“, sagt Claudia Cifire, Leiterin der Studienberatung an der TU. „In den anderen Fächern sind die Quoten nicht ausgeschöpft.“ Gibt es mehr Bewerber als Plätze, wird an der TU gelost. An der ASH greift in solchen Fällen ein internes Punktesystem, in dem unter anderem die Dauer der Berufserfahrung, bisherige Weiterbildungen und Sprachkenntnisse gewichtet werden.

Aufwändige Zulassungsverfahren wirken abschreckend

Fachleute vermuten, dass das an vielen Hochschulen aufwendige Zulassungsverfahren Bewerber ohne Abitur abschrecken könnte und die Quoten deshalb nicht voll ausgeschöpft werden. So müssen Bewerber ohne Meisterprüfung oder äquivalenten Abschluss an der TU, FU und HU eine Zugangsprüfung ablegen, wenn sie ein nicht mit ihrem Beruf verwandtes Fach studieren wollen. Die ASH erwartet ein ausführliches Motivationsschreiben. Dazu kommen Arbeitszeugnisse über alle beruflichen Stationen.

Niels Schirrmeister hat sich vom Bewerbungsverfahren nicht abschrecken lassen. Seine Bilanz nach vier Jahren Studium ist positiv: Im Bachelor war er unter den besten zehn Prozent, die Regelstudienzeit hält er ein. „Ich habe das Gefühl, wir beruflich Qualifizierten ziehen das Studium konsequenter durch“, sagt er. Der 30-Jährige hat aber auch seine Grenzen kennengelernt. „Mathematik und Physik sind die Hürden“, sagt er. „Das ist schon für meine Kommilitonen mit Abi richtig schwer, und uns fehlt da einfach Vorwissen.“ Dieses Problem hat auch die TU erkannt und bietet Vorbereitungs- und Brückenkurse an. Außerdem hat die TU in der Studienberatung ein eigenes Angebot für Bewerber mit beruflicher Qualifikation.

Hochschulverträge verpflichten Unis und FHs zu mehr Durchlässigkeit

Solche Angebote brauchen die Hochschulen, wenn sie für Bewerber ohne Abitur attraktiv sein wollen. Nach dem Willen der Politik ist noch Luft nach oben, was die Öffnung der Hochschulen angeht. „Aus unserer Sicht können sich die Hochschulen noch stärker für beruflich Qualifizierte öffnen“, sagt Thorsten Metter, Sprecher der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. In den neuen Hochschulverträgen werden Universitäten und Fachhochschulen verpflichtet, innovative Studienangebote wie zum Beispiel duale Studiengänge zu entwickeln, um durchlässiger zu werden.

Klar ist allerdings auch: Wie stark sich eine Hochschule um nicht-traditionelle Bewerber bemüht, wird mit davon abhängen, ob sie auf diese angewiesen ist. Die großen Berliner Unis sind ohnehin überlaufen – und werden es Prognosen zufolge auch in den kommenden Jahren bleiben. Die Notwendigkeit, die Zugangsquoten zu erhöhen und aktiv um Bewerber ohne Abitur zu werben, dürfte sich für sie in absehbarer Zeit nicht stellen.

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